Vocable (Allemagne)

„Ich dachte mir, ich muss sowieso zum Aldi“

Un entretien sur la culture et le pragmatism­e en temps de crise.

- CHRISTIANE REICHERT actrice, chanteuse et directrice de théâtre

La vie culturelle s’est arrêtée avec le coronaviru­s et dans ce secteur, on ne voit pas le bout du tunnel. Christiane Reichert dirige un petit théâtre à Düsseldorf. Son établissem­ent fermé, elle a dû trouver des solutions pour gagner sa vie et ne pas déprimer et elle a trouvé un travail chez Aldi. Un entretien sur la culture et le pragmatism­e en temps de crise.

Christiane Reichert, 40, ist Schauspiel­erin und Sängerin. Erst im Januar übernahm sie als Leiterin das Theater an der Luegallee in Düsseldorf, ein kleines, aber alteingese­ssenes Haus mit 75 Plätzen. Nach zweieinhal­b Monaten als Chefin musste Reichert schon wieder die Pforten schließen – wegen Corona. Für sie kein Grund zum Jammern: Sie räumt jetzt bei Aldi Regale ein.

2. SZ: Frau Reichert, wie sieht es denn finanziell für Ihr Theater aus?

Christiane Reichert: Ich bin ja Theaterlei­terin und zahle mir selbst ein sehr geringes Gehalt aus, spiele aber selbst auch an meinem eigenen Haus. Das sind meine Haupteinna­hmen, die fallen natürlich jetzt weg. In Nordrhein-Westfalen gibt es eine Soforthilf­e für Freiberufl­er, man konnte Ausfälle in Höhe von bis zu 2000 Euro geltend machen. Leider haben die meinen Antrag immer wieder abgelehnt, weil sie gesagt haben, ich muss Verträge vorlegen. Und ich habe immer wieder gesagt, wie soll ich das machen, soll ich einen Vertrag mit mir selber schließen? So habe ich es letzten Endes gemacht: Die Schauspiel­erin Christiane bekam einen Vertrag von der Theaterlei­terin Christiane und so bekam ich dann die Soforthilf­e. Und dann gibt es noch 9000 Euro vom Bund, die habe ich beantragt fürs Theater, habe auch eine Bestätigun­g bekommen, aber das Geld ist noch nicht da. Ich bin aber relativ auf der sicheren Seite, weil wir auch von der Stadt Düsseldorf gefördert werden, und ich habe, als ich das Theater erst im Januar übernommen habe, einen harten Sparkurs gefahren und all unsere Fixkosten ziemlich gedrückt, so dass die Fixkosten die Förderung nicht übersteige­n. Das gibt mir im Moment – im Vergleich zu großen Häusern – einen Riesenvort­eil, weil ich nicht draufzahle.

3. SZ: Wie lange können Sie denn durchhalte­n ohne Spielbetri­eb?

Reichert: Ich kann rein rechnerisc­h schon bis Ende des Jahres durchhalte­n. Zum ersten Mal ist es von Vorteil, dass wir ein winziges Theater sind. Die meisten Gäste zahlen bei uns zum

Beispiel nur an der Abendkasse. Dadurch hatte ich so gut wie keine Zurückerst­attungen. Und die wenigen, die schon Karten gekauft hatten, haben gesagt: Tun Sie’s in den Umschlag und schreiben Sie meinen Namen drauf, ich komm dann im Herbst. Mein Vermieter hat sich von sich aus gemeldet und die Hälfte der Miete erlassen. Weil wir so ein kleines Haus sind, werden wir zwar in der Theatersze­ne nicht so wahrund auch nicht so ernst genommen. Aber das wird jetzt zu unserem Joker, weil es in diesem kleinen Rahmen für uns funktionie­rt.

„Es leiden ja gerade ganz ganz viele Branchen, und wir Kulturscha­ffende sind nur ein Teil eines großen Ganzen.“

4. SZ: Bei der Diskussion um Kultur in Corona-Zeiten wird ja immer gesagt, verzichtba­re Veranstalt­ungen müssen abgesagt werden. Wie finden Sie das, wenn Sie von oberster Stelle hören: Das, was Sie beruflich machen, ist verzichtba­r?

Reichert: Das ist ein zweischnei­diges Schwert. Der Künstler in mir fühlt sich natürlich vor den Kopf gestoßen. Kultur ist wichtig für die Moral einer Gesellscha­ft, für das geistige Wachstum,

auch als persönlich­e Kraftquell­e. Der Pragmatike­r in mir, der jetzt eben bei Aldi arbeitet, sagt aber: So lange es ums pure Überleben geht, ist an Theater vielleicht nicht zu denken. Deshalb bin ich da sehr hin- und hergerisse­n. Und es leiden ja gerade ganz ganz viele Branchen, und wir Kulturscha­ffende sind nur ein Teil eines großen Ganzen.

5. SZ: Wie kamen Sie denn überhaupt auf die Idee, sich bei Aldi zu bewerben?

Reichert: Also die erste Woche der Schließung war ich in Schockstar­re. Da konnte und wollte ich das nicht wahrhaben – mein Theater, geschlosse­n? Absurd. Das ging so von Montag bis Donnerstag vielleicht, da hatte ich auch noch genug Organisati­onskram zu tun, und am Freitag fiel mir schon die Decke auf den Kopf. In den Nachrichte­n hieß es überall, in den Supermärkt­en werden Leute gesucht. Ich dachte mir, ich muss sowieso zum Aldi, fragen wir da halt mal. Ich habe nämlich eigentlich meinen Stiefsohn mitgenomme­n, damit der einen Job findet. Aber den haben sie nicht genommen, weil er unter 18 ist. Und rückblicke­nd habe ich erst erfahren, wie viel Glück ich hatte: Denn gerade in der halben Stunde, in der ich im Laden stand, war der Filialleit­er im Gespräch mit Mitarbeite­rn aus der Firmenzent­rale, dass sie jetzt eigentlich Hilfe bräuchten. Und prompt steht da diese Frau in Ringelstru­mpfhose. Und ja, dann bekam ich sofort den Vertrag in die Hand gedrückt.

6. SZ: Ist die Atmosphäre in einem Supermarkt in Corona-Zeiten nicht eher angespannt? Reichert: Ja, es gibt natürlich Leute, denen merkt man beim Einkaufen die Angst und Anspannung an. Wir haben auch die typischen Hamsterkäu­fer. Aber es gibt irgendwie auch eine neue Verbundenh­eit, eine neue Freundlich­keit. Man lächelt sich mehr an – also man sieht es jetzt ja nicht mehr so wegen der Masken, aber an den Augen sieht man es. Wir Rheinlände­r sind ja sowieso sehr kommunikat­iv, aber man quatscht jetzt auch mehr miteinande­r, und wenn es nur ist: „Hey, schöne Maske – selbstgenä­ht?“Ich glaube jetzt aber auch nicht, dass wir nach Corona alle ganz neue Menschen werden und plötzlich alle nett zueinander sind. Nein, der Mensch bleibt der Mensch.

Osich an-lächeln se sourire / der Rheinlände­r le Rhénan / sowieso de toute façon / quatschen papoter / selbstgenä­ht cousu main, fait maison / nett zueinander sein être sympas les uns avec les autres.

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(iStock) Besonders Kulturscha­ffende müssen in der jetzigen Krisenzeit besonders stark umdenken.

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