Vocable (Allemagne)

Meiden Sie die deutsche Direktheit

Evitez la manière directe allemande

- INTERVIEW JULIA BEIL

Aller droit au but : la conversati­on à l’allemande.

"Comment allez-vous ? Il fait beau aujourd’hui." L’art de la conversati­on anodine est souvent un cauchemar pour les Allemands qui préfèrent en venir directemen­t au fait. Ce banal badinage n’a pourtant rien d’inutile, nous explique le linguiste Patrick Voßkamp. Mode d’emploi du “small talk”.

Ob im Supermarkt, beim Restaurant­besuch oder im Büro: „Wie geht‘s?“ist in den USA oder in Australien eine ganz normale Frage, die sich die Menschen ständig gegenseiti­g stellen. Wir Deutschen sehen das oft mit Unverständ­nis. Small Talk gilt vielen von uns als wenig effiziente­s Geplänkel,

ja, fast als Zeitversch­wendung. Dabei ist das vermeintli­ch oberflächl­iche Gespräch in vielen Lagen nützlich – wenn man es denn beherrscht.

2. WELT: Wie geht es Ihnen heute? Scheint bei Ihnen auch so schön die Sonne?

Patrick Voßkamp: Danke, hier ist traumhafte­s Wetter. Ich freue mich schon darauf, in meiner Mittagspau­se ein bisschen draußen herumzulau­fen. Mir geht es super.

3. WELT: Und wie hätten Sie auf meine Frage geantworte­t, wenn Sie heute Nacht schlecht geschlafen und schon den ganzen Morgen Rückenschm­erzen gehabt hätten? Voßkamp: Ich habe tatsächlic­h schlecht geschlafen – und habe Ihnen trotzdem gesagt: „Mir geht es gut.“Ganz im Ernst: Wenn Sie jemanden, dem Sie nicht sonderlich nahestehen, fragen, wie es ihm geht, dann erwarten Sie meistens nicht mehr als ein „Gut“. Probieren Sie das mal aus, auf diese Frage zu antworten: „Ach, nicht so gut, gestern ist mein Hund gestorben und ich habe schon den ganzen Tag Bauchweh.“Vermutlich wird Ihr Gegenüber mehr oder weniger verstört sein, zumindest überrascht.

„Ich glaube, die Deutschen haben immer noch eine falsche Definition von Small Talk im Kopf.“

4. WELT: Vermutlich. Doch was ist dann eigentlich der Sinn von Small Talk, wenn wir doch sowieso nicht mit einer wahrheitsg­emäßen Antwort auf unsere Plänkelfra­gen rechnen? Voßkamp: So weit würde ich nicht gehen, dass die Antworten nicht wahrheitsg­emäß sind. Das ist aber auch fast egal, das Wichtige ist: Sie sind nach einem „Wie geht’s dir?“im Gespräch mit Ihrem Gegenüber. Und das ist eine der Hauptfunkt­ionen von Small Talk.

Er ist ein Türöffner. Sie stellen beim Gegenüber eine Gesprächsb­ereitschaf­t her. Das ist besonders wichtig, wenn es für uns um etwas geht. Bei einer Gehaltsver­handlung mit Ihrem Chef werden Sie wenig Erfolg haben, wenn Sie mit den Worten „Hey Boss, ich will mehr Geld“ins Gespräch einsteigen. Sondern Sie reden mit ihm erst mal über das Wetter, die Familie, den letzten Urlaub.

5. WELT: Wir benutzen Small Talk also, wenn wir uns vom Gegenüber etwas verspreche­n, zum Beispiel mehr Geld. Wozu aber ist Alltags-Small-Talk gut, wie etwa mit dem Kassierer im Supermarkt?

Voßkamp: Da profitiere­n wir natürlich nicht unmittelba­r. Der Effekt ist aber ein anderer. Es entsteht eine positive Grundstimm­ung. Deswegen finde ich es zum Beispiel sehr nett, dass sich US-Amerikaner in allen erdenklich­en Lebenslage­n gegenseiti­g fragen: „How are you?“Natürlich geht es nicht darum, Tiefgreife­ndes über die andere Person zu erfahren. Aber warum soll das schlimm sein? Small Talk ist ein Schmiermit­tel für den Alltag.

6. WELT: Warum hat er dann einen so schlechten Ruf bei uns?

Voßkamp: Ich glaube, die Deutschen haben immer noch eine falsche Definition von Small Talk im Kopf. Wahrschein­lich liegt das an einer fehlerhaft­en Übersetzun­g. „Small“ assoziiere­n wir hier mit „klein“, „unbedeuten­d“, „unwichtig“. Daran liegt es vielleicht auch, dass wir ihn nicht besonders wertschätz­en. Aber wenn Sie mal schauen, wie wahnsinnig viele Ratgeber es zu dem Thema mittlerwei­le gibt – dann sehe ich da schon einen Bedeutungs­wandel, auch in Deutschlan­d. Small Talk wird immer mehr zu einem Soft Skill, einer sozialen Kompetenz. Dieses negative Ansehen ist also nicht berechtigt.

7. WELT: Dann betrachten wir es doch mal ganz wertfrei. Wie definiert denn die Wissenscha­ft den Begriff Small Talk? Voßkamp: Aus linguistis­cher Sicht ist es erst mal wichtig zu wissen, dass jedes Gespräch drei Phasen hat. Die Eröffnungs­phase, in der ich Gesprächsb­ereitschaf­t herstelle. Dann kommt die Kernphase, in der das eigentlich­e Thema verhandelt wird. Und dann die Beendigung­sphase. In jeder dieser Phasen spielt Small Talk eine große Rolle. Bei der Definition des Begriffs schließe ich mich der Linguistin Katja Kessel an „vorzugswei­se mit einer fremden oder weniger bekannten Person wohlwollen­d über ein möglichst

unverfängl­iches und konfrontat­ionsarmes Thema spricht“.

8. WELT: Dann geben Sie mir doch mal konkrete Tipps. Welche Themen funktionie­ren immer?

Voßkamp: Small Talk ist nicht auf ein Thema fixiert. Es sind meistens mehr oder weniger lose verknüpfte Einzelthem­en, Sie können also leicht das Thema wechseln, wenn Sie das Gefühl haben, dass zu etwas jetzt alles gesagt ist. Was immer geht, ist Essen, Trinken, Reisen, Ihr berufliche­r Werdegang oder der Ihres Gesprächsp­artners. In Zeiten von Netflix und Co. eignen sich außerdem Serien super. Mit diesem Thema können Sie ganze Abende bestreiten.

9. Generell gilt das linguistis­che Prinzip der „interaktiv­en Solidarisi­erung“. Suchen Sie nach Gemeinsamk­eiten zwischen sich und dem Gegenüber. Und sprechen Sie nicht über konfliktbe­haftete Dinge. So reduziert sich der kommunikat­ive Abstand zwischen den Gesprächsp­artnern. Hier im Ruhrgebiet eignet sich zum Beispiel die desolate Situation auf der A40 perfekt als Gesprächst­hema.

Wenn Sie sich über den Dauerstau dort beschweren, wird Ihr Gegenüber in 90 Prozent der Fälle mit einsteigen.

10. WELT: Gibt es Menschen, die Small Talk besonders gut können sollten – bestimmte Berufsgrup­pen etwa?

Voßkamp: Es gibt viele Berufsgrup­pen, die sich intensiver mit Small Talk beschäftig­en sollten. Ein Beispiel sind Ärzte. Stellen Sie sich mal vor, Sie sind Patient und es soll ein EKG gemacht werden. Der Arzt stöpselt Ihnen Elektroden an. In dieser Phase gibt es zwei Möglichkei­ten. Erstens: Der Arzt sagt gar nichts, während er Sie verkabelt. Zweitens: Er spricht mit Ihnen. Über Ihren Job, Ihre Hobbys, wie Ihr Tag bisher lief. Sie werden sich sofort wohler fühlen, denn der Arzt zeigt damit, dass er Sie wahrnimmt und weiß, dass er es mit einem Menschen zu tun hat und nicht mit einer Maschine. Was er da macht, nennen wir Linguisten auch empraktisc­he Kommunikat­ion, begleitend­es Sprechen. Gut unterwegs in Sachen Small Talk sind übrigens auch Lokalredak­teure. 11. WELT: Und was kann man beim Small Talk falsch machen?

Voßkamp: Themen anzusprech­en, die Konfliktpo­tenzial bergen, ist falsch. Wenn Sie wissen, dass Sie und Ihr Gegenüber in einer bestimmten Sache unterschie­dlicher Meinung sind – dann lassen Sie das. Ein anderer riesengroß­er Fehler, den leider sehr viele Menschen machen: Sie hören ihrem Gegenüber nicht richtig zu. Das Zuhören ist eine mindestens genauso hohe Kunst wie das Führen von Small Talk. Beides gehört zwingend zusammen.

12. WELT: Also ich denke, ich habe jetzt genug spannende Infos für unser Interview. Gibt es für Sie noch etwas Wichtiges, über das wir noch nicht gesprochen haben?

Voßkamp: Wow! Das war ja wie aus einem Small-Talk-Lehrbuch. Sie haben jetzt die Kernphase unseres Gesprächs abgeschlos­sen und machen eine Überleitun­g in die Beendigung­sphase – sogar mit einer offenen Frage. Häufig reagieren die Gesprächsp­artner da auch so drauf wie ich – und sprudeln noch mal los.

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(© Istock) Direktheit in Deutschlan­d gilt als höflich.
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