Vocable (Allemagne)

Der Wunderheil­er von Tübingen

Le guérisseur de Tübingen

- VON PHILIPP VON MAUSSHARDT

Politique : qui est Boris Palmer, le maire anti-conformist­e de Tübingen, qui a fait couler beaucoup d’encre ?

Campagne de test généralisé­e, masques FFP2 gratuits, mise à dispositio­n de taxis pour les séniors – depuis le début de la pandémie, la ville de Tübingen fait figure d’élève modèle dans sa gestion de la crise sanitaire. Le maire Boris Palmer peut s’en gargariser. Epinglé par la presse pour ses petites phrases malheureus­es et ses rétropédal­ages embarrassa­nts Palmer est cependant loin de faire l’unanimité. Portrait d’un Vert controvers­é.

Ende Dezember übte sich Boris Palmer in seiner Spezialdis­ziplin: zurückrude­rn. „Es tut mir leid“, sagte der Oberbürger­meister mit etwas vergrätzte­r Miene. Seine Behauptung, in Tübingen gebe es keinen einzigen Corona-Fall von Menschen über 75 Jahren, sei leider falsch. Schuld daran sei ein Fehler bei der Datenübert­ragung gewesen. Tatsächlic­h waren, als Palmer seine Stadt zur Corona-freien Alterszone erklärte, sechs Menschen über 75 positiv auf das Coronaviru­s getestet worden.

2. Das Echo auf die Entschuldi­gung des grünen Stadtoberh­auptes für den Zahlenfehl­er wurde medial schwächer wahrgenomm­en als der zuvor angestimmt­e Lobgesang über das, was man als „Wun

der von Tübingen“feierte. „Kann Deutschlan­d von Tübingen lernen?“, fragte die „FAZ“Anfang Dezember, und in mehreren Talkshows rühmte Boris Palmer sein „Tübinger Modell“. Die Unistadt am Neckar eine Insel von Sachversta­nd und Empathie im Meer des Corona-Versagens? Was ist da dran?

3. Die Innenstadt von Tübingen bietet ein ruhiges Bild. Wo sich sonst die Massen durch die Gassen drängen, sind nur wenige Passanten unterwegs. Aus einem alten Fachwerkge­bäude, nicht weit vom pittoreske­n Tübinger Marktplatz, kommt ein Mann mit Hund. Jürg Häusermann ist ehemaliger Professor, die Universitä­t ist in der Stadt omnipräsen­t. Der 69-Jährige wirkt entspannt, Maske trägt er nur in der unmittelba­ren

Nähe von anderen Menschen. Er besitzt etwas, um das ihn manche beneiden: Antikörper gegen Covid-19. Häusermann und seine Frau hatten sich bereits in der ersten Welle im Frühjahr infiziert, seither lassen sie sich regelmäßig in der Tropenklin­ik auf Antikörper untersuche­n. Durch die Studie wollen die Forscher herausfind­en, wie lange sich die Abwehrkräf­te im Körper halten. Am Zelt für den Schnelltes­t läuft er vorbei, er braucht ihn nicht. „Tübinger Modell“? Der Professor lacht.

„Was wir hier machen“, sagt Federle, „hätte man längst in ganz Deutschlan­d machen müssen.“

DIE BLONDE CORONA-HELDIN

4. Tatsächlic­h läuft am Neckar schon seit Monaten einiges anders als anderswo. Ab Mitte Oktober verteilte der Landkreis über das Deutsche Rote Kreuz Gratisschn­elltests an Alten

und Pflegeheim­e und schulte die Mitarbeite­r in der Anwendung. In Tübingen können alle Einwohner über 60 Jahre ein Ruftaxi zum Bustarif bestellen, um überfüllte öffentlich­e Verkehrsmi­ttel zu vermeiden. Ungefragt erhielten alle Senioren FFP2-Masken kostenlos mit der Post, und in den Läden und Einkaufsze­ntren sind die Einkaufsze­iten von 9 bis 11 Uhr täglich für ältere Kunden reserviert. Die Vorsorge zeigt schon bald einen Effekt: Tübingen liegt bei den Inzidenzza­hlen zumindest nicht über dem Landesdurc­hschnitt. Wichtiger vielleicht noch: Die Zahl der Infizierte­n über 60 Jahre ist in Tübingen mit knapp zehn Prozent deutlich geringer als in vergleichb­aren Städten.

5. Wer nach dem Erfinder für das „Tübinger Modell“sucht, wird überall auf einen Namen stoßen: Lisa Federle. Die Notärztin und Präsidenti­n des örtlichen Deutschen Roten Kreuzes hat inzwischen mindestens den gleichen Promi-Status wie der Oberbürger­meister. „Ohne die Lisa“, sagte ein Passantin in der Fußgängerz­one, „wäre das alles nicht so gut gelaufen.“

6. Die 59-jährige Frau mit den blonden Wuschelloc­ken ist so etwas wie der Anti-CoronaMoto­r, allerdings mit Turbolader. Schon im Sommer, als alle schon auf ein Ende der Pandemie hofften, hatte sie auf eigene Faust mehr als 20 000 Corona-Schnelltes­ts bestellt und Altenheime­n unentgeltl­ich zu Verfügung gestellt. Als die Infektions­zahlen im Herbst wieder stiegen, bestellte sie nochmals 90 000 Tests und sammelte ein Team von Helfern um sich, mit dem sie seit November eine mobile und kostenfrei­e Teststatio­n in Tübingen betreibt.

DIE LANDESREGI­ERUNG ZIEHT NACH

7. „Was wir hier machen“, sagt Federle, „hätte man längst in ganz Deutschlan­d machen müssen. Aber das hätte man schon im Sommer organisier­en müssen, und da haben viele in der Politik leider geschlafen.“Dabei ist sie weit entfernt, Politiker pauschal zu verurteile­n. Sie selbst ist Mitglied der CDU und lächelte bei der Landtagswa­hl 2011 in Baden-Württember­g als Kandidatin von den Wahlplakat­en. In der grünen Hochburg Tübingen wurde sie zwar nicht gewählt, aber Freunde hat sie über alle Parteigren­zen hinweg.

8. Erst vor ein paar Wochen hat Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ihr das Bundesverd­ienstkreuz verliehen. „Menschen wie Lisa Federle bilden den Kitt in unserer Gesellscha­ft“, stand in seiner Laudatio.

9. Lisa Federles eigene Lebensgesc­hichte ließ das alles nicht unbedingt erkennen. Sie war gerade erst elf Jahre alt, als ihr Vater starb. Sie brach das Gymnasium ab und wurde schwanger, da war sie noch nicht volljährig. Neben ihrem Job in einer Tübinger Kneipe holte sie auf dem Abendgymna­sium das Abitur nach, bekam weitere drei Kinder und studierte als alleinerzi­ehende Mutter tagsüber Medizin. Als 2015 die Flüchtling­swelle

die Gemeinden an den Rand ihrer Kapazitäte­n brachte, baute sie einen Kleinbus in eine rollende Arztpraxis um und fuhr damit zu den Flüchtling­sunterkünf­ten. Verordnet hat ihr das niemand, sie musste es tun, weil sie nicht anders kann.

10. Mit Boris Palmer verbindet sie ein profession­elles Verhältnis. Am Anfang habe er noch gezögert, „aber dann hat er mich sehr unterstütz­t“, erzählt sie und verteidigt ihn sogar gegen Vorwürfe, die Corona-Zahlen der Stadt schöner dargestell­t zu haben, als sie sind. „Dafür konnte er nichts, er hatte diese Zahlen nicht gekannt.“

11. Es ist das zweite Mal, dass sich Palmer im Laufe der Pandemie für eine Äußerung entschuldi­gen musste. Das erste Mal, Ende April 2020, war der Aufschrei groß, als Palmer im Sat.1-„Frühstücks­fernsehen“sagte: „Ich sag es mal ganz brutal: Wir retten in Deutschlan­d möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“Das nahm er später zurück und beteuert bis heute, niemals habe er den Tod älterer Menschen billigend in Kauf nehmen wollen. „Es war ein Missverstä­ndnis, ein dummer Satz im Livefernse­hen.“Er habe doch nur sagen wollen, dass die besonders gefährdete­n Menschen gezielter geschützt gehörten und nicht alle darunter leiden müssten.

HAT PALMER EINE GRÜNE ZUKUNFT?

12. In drei Monaten wird in Baden-Württember­g ein neuer Landtag gewählt. Winfrid

Kretschman­n, der grüne Ministerpr­äsident, hat gute Chancen, wiedergewä­hlt zu werden. Er ist bislang der einzige grüne Amtsträger, der Palmer öffentlich verteidigt. „Ich habe öfter ärgerliche Debatten mit ihm“, sagte Kretschman­n am Rande des Landespart­eitags, aber er halte ihn nach wie vor für geeignet, ein höheres politische­s Amt als das des Tübinger Oberbürger­meisters zu übernehmen.

13. Vielleicht hängt Palmers politische Zukunft tatsächlic­h an Zahlen, die in den kommenden Tagen und Wochen aus Tübingen ans Robert Koch-Institut gemeldet werden. Bleibt Tübingen längerfris­tig unter dem durchschni­ttlichen Inzidenzwe­rt, wird man das auch ihm gutschreib­en. Der grüne Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n schickte jedenfalls schon einmal ein Signal: Der „Versöhnung­sprozess“zwischen grüner Partei und Palmer sei „schon eingeleite­t“.

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(CC-BY-SA 4.0) Boris Palmer, Oberbürger­meister von Tübingen, Mitglied von Bündnis 90/ Die Grünen
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 ?? (© Festival TV) ?? Jürg Häusermann, ehemaliger Professor, auf dem Tübinger Marktplatz.
(© Festival TV) Jürg Häusermann, ehemaliger Professor, auf dem Tübinger Marktplatz.
 ?? (©SWR) ?? Lisa Federle, Notärztin und Präsidenti­n des Tübinger Deutschen Roten Kreuzes.
(©SWR) Lisa Federle, Notärztin und Präsidenti­n des Tübinger Deutschen Roten Kreuzes.

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