Der Wunderheiler von Tübingen
Le guérisseur de Tübingen
Politique : qui est Boris Palmer, le maire anti-conformiste de Tübingen, qui a fait couler beaucoup d’encre ?
Campagne de test généralisée, masques FFP2 gratuits, mise à disposition de taxis pour les séniors – depuis le début de la pandémie, la ville de Tübingen fait figure d’élève modèle dans sa gestion de la crise sanitaire. Le maire Boris Palmer peut s’en gargariser. Epinglé par la presse pour ses petites phrases malheureuses et ses rétropédalages embarrassants Palmer est cependant loin de faire l’unanimité. Portrait d’un Vert controversé.
Ende Dezember übte sich Boris Palmer in seiner Spezialdisziplin: zurückrudern. „Es tut mir leid“, sagte der Oberbürgermeister mit etwas vergrätzter Miene. Seine Behauptung, in Tübingen gebe es keinen einzigen Corona-Fall von Menschen über 75 Jahren, sei leider falsch. Schuld daran sei ein Fehler bei der Datenübertragung gewesen. Tatsächlich waren, als Palmer seine Stadt zur Corona-freien Alterszone erklärte, sechs Menschen über 75 positiv auf das Coronavirus getestet worden.
2. Das Echo auf die Entschuldigung des grünen Stadtoberhauptes für den Zahlenfehler wurde medial schwächer wahrgenommen als der zuvor angestimmte Lobgesang über das, was man als „Wun
der von Tübingen“feierte. „Kann Deutschland von Tübingen lernen?“, fragte die „FAZ“Anfang Dezember, und in mehreren Talkshows rühmte Boris Palmer sein „Tübinger Modell“. Die Unistadt am Neckar eine Insel von Sachverstand und Empathie im Meer des Corona-Versagens? Was ist da dran?
3. Die Innenstadt von Tübingen bietet ein ruhiges Bild. Wo sich sonst die Massen durch die Gassen drängen, sind nur wenige Passanten unterwegs. Aus einem alten Fachwerkgebäude, nicht weit vom pittoresken Tübinger Marktplatz, kommt ein Mann mit Hund. Jürg Häusermann ist ehemaliger Professor, die Universität ist in der Stadt omnipräsent. Der 69-Jährige wirkt entspannt, Maske trägt er nur in der unmittelbaren
Nähe von anderen Menschen. Er besitzt etwas, um das ihn manche beneiden: Antikörper gegen Covid-19. Häusermann und seine Frau hatten sich bereits in der ersten Welle im Frühjahr infiziert, seither lassen sie sich regelmäßig in der Tropenklinik auf Antikörper untersuchen. Durch die Studie wollen die Forscher herausfinden, wie lange sich die Abwehrkräfte im Körper halten. Am Zelt für den Schnelltest läuft er vorbei, er braucht ihn nicht. „Tübinger Modell“? Der Professor lacht.
„Was wir hier machen“, sagt Federle, „hätte man längst in ganz Deutschland machen müssen.“
DIE BLONDE CORONA-HELDIN
4. Tatsächlich läuft am Neckar schon seit Monaten einiges anders als anderswo. Ab Mitte Oktober verteilte der Landkreis über das Deutsche Rote Kreuz Gratisschnelltests an Alten
und Pflegeheime und schulte die Mitarbeiter in der Anwendung. In Tübingen können alle Einwohner über 60 Jahre ein Ruftaxi zum Bustarif bestellen, um überfüllte öffentliche Verkehrsmittel zu vermeiden. Ungefragt erhielten alle Senioren FFP2-Masken kostenlos mit der Post, und in den Läden und Einkaufszentren sind die Einkaufszeiten von 9 bis 11 Uhr täglich für ältere Kunden reserviert. Die Vorsorge zeigt schon bald einen Effekt: Tübingen liegt bei den Inzidenzzahlen zumindest nicht über dem Landesdurchschnitt. Wichtiger vielleicht noch: Die Zahl der Infizierten über 60 Jahre ist in Tübingen mit knapp zehn Prozent deutlich geringer als in vergleichbaren Städten.
5. Wer nach dem Erfinder für das „Tübinger Modell“sucht, wird überall auf einen Namen stoßen: Lisa Federle. Die Notärztin und Präsidentin des örtlichen Deutschen Roten Kreuzes hat inzwischen mindestens den gleichen Promi-Status wie der Oberbürgermeister. „Ohne die Lisa“, sagte ein Passantin in der Fußgängerzone, „wäre das alles nicht so gut gelaufen.“
6. Die 59-jährige Frau mit den blonden Wuschellocken ist so etwas wie der Anti-CoronaMotor, allerdings mit Turbolader. Schon im Sommer, als alle schon auf ein Ende der Pandemie hofften, hatte sie auf eigene Faust mehr als 20 000 Corona-Schnelltests bestellt und Altenheimen unentgeltlich zu Verfügung gestellt. Als die Infektionszahlen im Herbst wieder stiegen, bestellte sie nochmals 90 000 Tests und sammelte ein Team von Helfern um sich, mit dem sie seit November eine mobile und kostenfreie Teststation in Tübingen betreibt.
DIE LANDESREGIERUNG ZIEHT NACH
7. „Was wir hier machen“, sagt Federle, „hätte man längst in ganz Deutschland machen müssen. Aber das hätte man schon im Sommer organisieren müssen, und da haben viele in der Politik leider geschlafen.“Dabei ist sie weit entfernt, Politiker pauschal zu verurteilen. Sie selbst ist Mitglied der CDU und lächelte bei der Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg als Kandidatin von den Wahlplakaten. In der grünen Hochburg Tübingen wurde sie zwar nicht gewählt, aber Freunde hat sie über alle Parteigrenzen hinweg.
8. Erst vor ein paar Wochen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. „Menschen wie Lisa Federle bilden den Kitt in unserer Gesellschaft“, stand in seiner Laudatio.
9. Lisa Federles eigene Lebensgeschichte ließ das alles nicht unbedingt erkennen. Sie war gerade erst elf Jahre alt, als ihr Vater starb. Sie brach das Gymnasium ab und wurde schwanger, da war sie noch nicht volljährig. Neben ihrem Job in einer Tübinger Kneipe holte sie auf dem Abendgymnasium das Abitur nach, bekam weitere drei Kinder und studierte als alleinerziehende Mutter tagsüber Medizin. Als 2015 die Flüchtlingswelle
die Gemeinden an den Rand ihrer Kapazitäten brachte, baute sie einen Kleinbus in eine rollende Arztpraxis um und fuhr damit zu den Flüchtlingsunterkünften. Verordnet hat ihr das niemand, sie musste es tun, weil sie nicht anders kann.
10. Mit Boris Palmer verbindet sie ein professionelles Verhältnis. Am Anfang habe er noch gezögert, „aber dann hat er mich sehr unterstützt“, erzählt sie und verteidigt ihn sogar gegen Vorwürfe, die Corona-Zahlen der Stadt schöner dargestellt zu haben, als sie sind. „Dafür konnte er nichts, er hatte diese Zahlen nicht gekannt.“
11. Es ist das zweite Mal, dass sich Palmer im Laufe der Pandemie für eine Äußerung entschuldigen musste. Das erste Mal, Ende April 2020, war der Aufschrei groß, als Palmer im Sat.1-„Frühstücksfernsehen“sagte: „Ich sag es mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“Das nahm er später zurück und beteuert bis heute, niemals habe er den Tod älterer Menschen billigend in Kauf nehmen wollen. „Es war ein Missverständnis, ein dummer Satz im Livefernsehen.“Er habe doch nur sagen wollen, dass die besonders gefährdeten Menschen gezielter geschützt gehörten und nicht alle darunter leiden müssten.
HAT PALMER EINE GRÜNE ZUKUNFT?
12. In drei Monaten wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. Winfrid
Kretschmann, der grüne Ministerpräsident, hat gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Er ist bislang der einzige grüne Amtsträger, der Palmer öffentlich verteidigt. „Ich habe öfter ärgerliche Debatten mit ihm“, sagte Kretschmann am Rande des Landesparteitags, aber er halte ihn nach wie vor für geeignet, ein höheres politisches Amt als das des Tübinger Oberbürgermeisters zu übernehmen.
13. Vielleicht hängt Palmers politische Zukunft tatsächlich an Zahlen, die in den kommenden Tagen und Wochen aus Tübingen ans Robert Koch-Institut gemeldet werden. Bleibt Tübingen längerfristig unter dem durchschnittlichen Inzidenzwert, wird man das auch ihm gutschreiben. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann schickte jedenfalls schon einmal ein Signal: Der „Versöhnungsprozess“zwischen grüner Partei und Palmer sei „schon eingeleitet“.