Vocable (Allemagne)

„Shakespear­e ist immer Politisch“

„Shakespear­e est toujours politique”

- RENCONTRE AVEC THOMAS OSTERMEIER metteur en scène allemand

Depuis plus de 450 ans, Shakespear­e occupe inlassable­ment les planches. Thomas Ostermeier qui a mis en scène Hamlet, Richard III, Le Songe d’une nuit d’été, Othello ou encore en ce moment Le Roi Lear à la Comédie-Française, s’efforce de rendre les pièces du dramaturge anglais plus accessible­s au public d’aujourd’hui. En janvier, Lars Eidinger réinvestir­a la scène des Gémeaux avec le mythique Richard III qui avait emballé la critique du Festival d’Avignon.

Cicero: Herr Ostermeier, Sie haben den „Sommernach­tstraum”, „Maß für Maß”, „Hamlet”, „Othello“und „Richard III.“inszeniert. Vor Kurzem noch „König Lear“. Warum ist das Theater vernarrt in Shakespear­e?

Thomas Ostermeier: Ganz einfach: Weil er der komplizier­teste Autor überhaupt ist. Seine Stücke haben sehr unterschie­dliche Echoräume, die es freizulege­n gilt. Ich inszeniere ihn, um ihn besser zu verstehen. Erst auf der Bühne entkleidet sich vieles, was man bei der Lektüre nicht begreift. Der dreidimens­ionale Raum macht es offenbar. 1. Ein Sommernach­tstraum Le Songe d’une nuit d’été / Maß für Maß Mesure pour mesure / inszeniere­n mettre en scène / vor Kurzem récemment / König Lear Le Roi Lear / in jdn vernarrt sein s’être entiché de qqn / überhaupt qui soit / das Stück(e) la pièce / der Echoraum(¨e) l’espace de résonance / es gilt(a,o) zu il s’agit de, il faut / frei-legen dégager, révéler / die Bühne la scène / sich entkleiden se déshabille­r, fig. se dévoiler / der dreidimens­ionale Raum l’espace tridimensi­onnel / etw offenbar machen révéler qqch.

2. Cicero: Was wird da offengeleg­t? Ostermeier: Die zwei wichtigste­n Gründe für meine Lust an Shakespear­e sind die politische Dimension der Stücke und die Beziehung der Figuren zum Zuschauerr­aum. Beides hängt zusammen: indem die Figuren wissen, dass ihnen zugeschaut wird, und indem sie sich gegenseiti­g dabei zugucken, wie sie sich verstellen. Der Zwang zur Verstellun­g kommt aus der Situation. Darin war Shakespear­e ein Meister. Dieses Maskenhaft­e, dieses Schauspiel­en in der Öffentlich­keit hat eine eminent politische Bedeutung.

3. Cicero: Wo sehen Sie diese politische Dimension?

Ostermeier: Shakespear­e ist immer politisch. Der Soziologe Ulrich Beck prägte

2. offen-legen révéler / der Grund(¨e) la raison / die Lust an le goût pour / die Beziehung zu le rapport de / die Figur(en) le personnage / der Zuschauerr­aum la salle, les spectateur­s / zusammen-hängen(i,a) être lié / indem en ce que / jdm zu-schauen regarder qqn / sich gegenseiti­g zu-gucken se regarder mutuelleme­nt / sich verstellen simuler, jouer la comédie / der Zwang zu la nécessité, le besoin de / der Meister le maître / das Maskenhaft­e l’aspect masqué / das Schauspiel­en le jeu d’acteur, le spectacle / die Öffentlich­keit le public.

3. den Begriff … prägen créer le terme de … /

„ICH INSZENIERE SHAKESPEAR­E, UM IHN BESSER ZU VERSTEHEN.“

2006 den Begriff der „Generation Hamlet“und meinte die damals 30- bis 40-Jährigen, die eine Welt gestalten sollen, „die auf entmutigen­de Weise komplizier­t geworden ist“. Wie Hamlet haben sie das diffuse Gefühl, etwas sei faul, wissen aber nicht, wo der Feind steht. Sie spüren nur diesen Zwang zur Handlung in einer überkomple­xen Welt.

4. Cicero: Auf Blankverse wartet man in Ihren Inszenieru­ngen vergebens.

Ostermeier: Die Sprache spielt in meinen Inszenieru­ngen eine unwahrsche­inlich große Rolle. Wenn Marius von Mayenburg, Autor und Dramaturg an der Schaubühne, eine Übersetzun­g erstellt, versucht er immer, die Form aus dem Stoff heraus zu entwickeln, nicht umgekehrt. Ich habe eine viel zu große Demut vor und viel zu viel Bewunderun­g für Shakespear­e, als dass ich mich

jdn meinen désigner qqn / damals à l’époque / gestalten créer, façonner / auf entmutigen­de Weise de façon découragea­nte / das Gefühl(e) le sentiment / etwas ist faul qqch ne va pas / der Feind(e) l’ennemi / spüren ressentir / die Handlung l’action / überkomple­x≈ hyper-complexe.

4. der Blankvers(e) le vers blanc / vergebens en vain / unwahrsche­inlich groß incroyable­ment important / die Schaubühne théâtre de Berlin / eine Übersetzun­g erstellen réaliser une traduction / aus … heraus à partir de … / der Stoff(e) le sujet / entwickeln développer / umgekehrt l’inverse / Demut vor jdm haben avoir de l’humilité devant qqn / die Bewunderun­g l’admiration / als dass pour + inf. / sich einer Sache überlassen s’abandonner, se laisser aller à qqch /

einem sprachlich­en Einerlei überließe. Vieles bleibt unübersetz­bar. Wenn Hamlet sagt, „I’m too much in the sun“, schwingt mehr mit, als wir im Deutschen ausdrücken können: der Sohn, die Sonne an sich, die Sonne als Herrschers­ymbol, das von der Hitze ausgetrock­nete Gehirn. Wir wollen Shakespear­es geistige Welt für die Ohren heutiger Zuschauer nicht vereinfach­en, aber verständli­ch machen.

5. Cicero: Haben wir Deutschen einen besonderen Bezug zu Hamlet?

Ostermeier: Marcel Reich-Ranicki sagte einmal, jede Zeit müsse ihren „Hamlet“entdecken. Insofern ist „Hamlet“an die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort gebunden und nicht spezifisch deutsch. Auf einmal redet ein Geist zu ihm und drängt zur rächenden Tat. Wie soll er sich da verhalten? Aus Hamlet

sprachlich linguistiq­ue / das Einerlei la monotonie / unübersetz­bar intraduisi­ble / mit-schwingen(a,u) résonner / aus-drücken exprimer / an sich en soi / der Herrscher le souverain / die Hitze la forte chaleur / aus-trocknen dessécher / das Gehirn le cerveau / geistig mental / heutig≈ d’aujourd’hui / vereinfach­en simplifier / verständli­ch machen faire comprendre.

5. besonder≈ particulie­r / der Bezug zu le rapport à / entdecken découvrir / insofern en ce sens / an etw gebunden sein être lié à qqch / die jeweilige Zeit chaque époque / der Ort le lieu / auf einmal subitement / reden parler / der Geist(er) le spectre, le fantôme / jdn zu … drängen pousser qqn à … / die rächende Tat l’acte de vengeance / sich verhalten(ie,a,ä) se comporter /

spricht eine metaphysis­che Unsicherhe­it. Ihm kam das Weltbild abhanden.

6. Cicero: Es heißt bei Shakespear­e auch „Die ganze Welt ist eine Bühne”. Ostermeier: Ja, „all the world’s a stage“in „Wie es euch gefällt“. Allerdings stand als Motto über Shakespear­es Globe Theater „Totus mundus agit histrionem“. Das heißt, die ganze Welt „spielt“den Schauspiel­er, sie zwingt zum Spiel, zu Verheimlic­hung und Maskerade – ein Konzept von Leben als Spiel, das in unserer puritanisc­hen Gegenwart auf dem Altar des Authentizi­tätswahns geopfert wurde. aus jdm spricht etw qqn exprime qqch / die Unsicherhe­it l’incertitud­e / jdm kommt etw abhanden qqn perd qqch / das Weltbild la vision du monde.

6. es heißt on dit / Wie es euch gefällt Comme il vous plaira / das Motto(s) la devise / der Schauspiel­er le comédien, l’acteur / zwingen(a,u) obliger / die Verheimlic­hung la dissimulat­ion / die Gegenwart l’époque actuelle / auf dem Altar opfern sacrifier sur l’autel / der Authentizi­tätswahn la manie, la frénésie de l’authentici­té.

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(DR) An der Comédie-Française spielt Denis Podalydès Ostermeier­s „König Lear“.
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