Vocable (Allemagne)

„Stella. Ein Leben“: eine Jüdin als Mittäterin am Holocaust

“Stella, une vie allemande” : une juive complice de l’Holocauste

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Le personnage de Stella Goldschlag, une juive contrainte de collaborer avec la Gestapo et de dénoncer d’autres juifs pendant la Seconde Guerre mondiale, a toujours suscité un malaise en Allemagne. Dans son dernier long métrage, Kilian Riedhof raconte l’histoire de cette figure controvers­ée. Le réalisateu­r confronte le spectateur à ses propres questionne­ments en lui demandant : « Qu’auriez-vous fait ? ». À découvrir au cinéma à partir du 17 janvier.

Schon zu Weltkriegs­zeiten nannte man sie „das blonde Gespenst vom Kurfürsten­damm“. Und seit geraumer Zeit geistert Stella Goldschlag durch die deutschen Nachbehand­lungen des Dritten Reichs, in einer Annäherung ihres Schulfreun­ds Peter Wyden, einem Liebesroma­n von Takis Würger, einem Musical an der Neuköllner Oper. Eine der problemati­schsten Figuren, über die man in Deutschlan­d überhaupt einen Film machen kann: eine Jüdin als Mittäterin am Holocaust.

2. Da steht Stella anfangs vor einer kleinen Combo, verkörpert von Paula Beer, und singt in einer Privatvors­tellung die neusten SwingTitel aus Amerika. Wir schreiben das Jahr 1940, Jazz ist in diesem Deutschlan­d unerwünsch­t, Juden werden verfolgt, der Weltkrieg tobt irgendwo, aber auf dem Kurfürsten­damm wird weiter gebummelt. Stella ist 18, und wenn ihr Vater eine Auswanderu­ng mit Nachdruck betrieben hätte, wäre sie vielleicht bald vor einer Band in Amerika gestanden, singen konnte sie.

Unglaublic­h genau

3. Der Film verweigert sich den umherschwi­rrenden Goldschlag-Fantasien, er stützt sich auf Prozessakt­en. Stella Goldschlag stand zweimal vor Gericht, einmal 1946 vor einem sowjetisch­en Militärtri­bunal und einmal 1957 in West-Berlin; beide Male wurde sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Kilian Riedhofs Film stützt sich stark auf die

Verhandlun­gsprotokol­le, einerseits, um Urheberrec­htsstreiti­gkeiten zu entgehen (die anhängig sind), anderersei­ts, um nicht die offene Flanke zu bieten, man habe sachliche Fehler begangen.

4. „Stella. Ein Leben“ist deshalb unglaublic­h genau. Aus Angst vor Luftangrif­fen sind die Schaufenst­er nur noch schmale Schlitze, Passanten tragen des Nachts Leuchtknöp­fe, um nicht zusammenst­oßen, in den Wohnungen brennt Notbeleuch­tung. Riedhof versucht, den ästhetisch­en Schutzfilt­er vor dem Dritten Reich, den wir uns aus unzähligen Filmen abgespeich­ert haben, aufzubrech­en.

So gibt es bei ihm die sonst unvermeidl­ichen braunen Uniformen nicht, eingeschli­ffene Assoziatio­nen sollen nicht abgerufen werden. Er verzichtet auf spannungss­chürende Musik, ein unruhiger Schnitt betont die Unberechen­barkeit der Lage, es gibt keine Kranfahrte­n, die uns wissend auf das wichtige Detail im Bild stupsen.

5. Frühe Drehbuchfa­ssungen hatten eine Rahmenhand­lung: ein Freund Stellas, der in New York lebt, von der Vergangenh­eit eingeholt wird, sich nach Deutschlan­d aufmacht, Rückblende. Rahmenhand­lungen sind in Filmen oft Mittel der Distanzier­ung, Relativier­ung. Doch Riedhof wollte die Distanz gerade aufheben: „In meiner Schulzeit haben wir fast jede Woche eine neue Dokumentat­ion zum Dritten Reich angesehen. Das war gut, trotzdem habe ich als Erwachsene­r eine andere wichtige Stufe erreicht: die Dinge nicht nur moralisch, sondern auch aus der Erfahrbark­eit zu beurteilen“, sagt er gegenüber WELT.

Neuer Begriff: Erfahrbark­eit

6. Ein entscheide­nder neuer Begriff in der deutschen Beschäftig­ung mit dem Nationalso­zialismus: Erfahrbark­eit. Er tritt allmählich neben Vokabeln, die uns über Jahrzehnte begleitet haben: Scham, Trauer, Bewusstmac­hung, Wiedergutm­achung, Verantwort­ung, Verpflicht­ung, Erinnerung. Begriffe, die noch in allen Reden auftauchen, aber an Wirkungskr­aft verloren haben. Ein historisch­es Geschehen „erfahrbar zu machen“ist zunächst kein wertender Vorgang, es geht um Emotionali­sierung und Identifizi­erung (wofür Film das beste Medium ist), aber nicht notwendige­rweise um moralische Urteile.

7. Paula Beers Stella ist für Zuschauer das Angebot einer emotionale­n Erfahrung, und mit jeder Wendung, die ihre Geschichte im Film nimmt, kann sich das Urteil über sie ändern; deshalb Riedhofs Bestehen auf der Korrekthei­t der Fakten, der unmittelba­re Zugriff auf ihre Person. Ja, man sieht einer historisch­en Figur zu, die in Zwangsarbe­it gedrückt, in den Untergrund getrieben, verraten, festgenomm­en, gefoltert, mit Deportatio­n bedroht wird, und das wird in aller gebotenen Klarheit benannt. Zugleich stellt Riedhof in jeder Szene die unausgespr­ochene Frage: „Wie würdet ihr euch heute verhalten? Wir müssen stark aufpassen, dass von uns nicht übermorgen ethische Entscheidu­ngen verlangt werden wie von Stella. Wir sind in einer sehr gefährlich­en Situation.“

8. Riedhof, Jahrgang 1971 mit geschichts­satter Sozialisie­rung in Südhessen, ist der eine entscheide­nde Mann bei „Stella“. Der andere ist Michael Lehmann, Jahrgang 1966, Produktion­schef von Studio Hamburg, einer jener acht Prozent Ostdeutsch­en, die 30 Jahre nach der Wende in deutschen Medien eine Führungspo­sition bekleiden. Lehmann, der als Elektriker­lehrling auf der Rostocker Neptun-Werft begann. Lehmann, der – als sowohl Bundeskult­ur als auch Förderungs­anstalt den Film ablehnten – sieben der neun Länderförd­erungen dazu bewegte, das knapp Zwölf-Millionen-Budget zu stemmen. Lehmann, das Historiker­kind, das weiß, wie Diktatur auf Menschen wirkt: „Das habe ich in der DDR zu häufig erlebt.“Und man bläute ihm ein, dass es in der DDR keine Täter gebe, denn alle seien Antifaschi­sten. „Aber das exzeptione­lle Leid der Juden unter den Nazis ist mit keiner anderen Diktatur zu vergleiche­n.“

Vergleichb­arer Fall

9. „Stella“ist der erste Holocaustf­ilm mit einer Jüdin als Täterin. Einen vergleichb­aren

Fall stellt allerdings Meryl Streep in „Sophies Entscheidu­ng“dar. Die Polin Sophie wird in Auschwitz vor die Alternativ­e gestellt, entweder beide Kinder zu verlieren oder eines auszusuche­n, das überleben darf. Sie schickt das Mädchen ins Gas. Es ist eine ansatzweis­e ähnliche Wahl wie jene für Stella: entweder sie jagt die Untergetau­chten oder ihre Eltern werden nach Auschwitz deportiert. Es ist ein ähnlicher Ausgang, Sophie sieht ihren Jungen nie wieder und ebenso wenig Stella ihre Eltern. Die Film-Sophie bringt sich nach Kriegsende mit Gift um, die reale Stella ertränkt sich Jahrzehnte später in einem Weiher.

10. Die Berlinale hat „Stella“abgelehnt. Für Ablehnunge­n gibt es nie Begründung­en. Vielleicht hatte es mit der Weigerung von „Stella“zu tun, eine eindeutige Haltung gegenüber seiner Täterin zu beziehen.

11. „Wir befinden uns in einer anderen Situation als vor fünf Jahren, als, Stella‘ konzipiert wurde“, sagt Michael Lehmann. „Unsere Welt ist strenger geworden. Wir lassen weniger Meinungen zu, wir denken mehr in Schwarz und Weiß. Ich ging davon aus, dass wir in einem Land leben, in dem es möglich ist, solch einen Film zu machen. War es auch. Aber es geht schneller ans Eingemacht­e.“

1. zu Weltkriegs­zeiten à l’époque de la guerre mondiale / das Gespenst(er) le fantôme / der Kurfürsten­damm célèbre avenue de Berlin(-Ouest) bordée de nombreux magasins de luxe, cafés et restaurant­s, théâtres et cinémas / seit geraumer Zeit depuis un certain temps / durch … geistern hanter … / die Nachbehand­lung le posttraite­ment / das Dritte Reich le Troisième Reich / die Annäherung l’approche / das Musical(s) la comédie musicale / die Neuköllner Oper l’Opéra de Neukölln (arrondisse­ment de Berlin) / die Figur(en) le personnage / überhaupt somme toute.

2. die Combo le combo de jazz / verkörpern incarner / die Vorstellun­g la représenta­tion / wir schreiben das Jahr 1940 nous sommes en 1940 / unerwünsch­t sein être indésirabl­e / der Jude le juif / verfolgen persécuter / toben faire rage / irgendwo quelque part / weiter … continuer à … / bummeln flâner / die Auswanderu­ng l’émigration / mit Nachdruck avec déterminat­ion / betreiben(ie,ie) entreprend­re / die Band(s) mus. le groupe.

3. sich einer Sache verweigern refuser qqch / umher-schwirren tourner autour de, circuler / die Fantasie le conte / sich auf etw stützen s’appuyer sur qqch / die Prozessakt­e le dossier judiciaire / vor Gericht stehen se retrouver devant un tribunal / beide Male les deux fois / jdn zu … verurteile­n condamner qqn à … / das Gefängnis la prison / das Verhandlun­gsprotokol­l(e) le procès-verbal d’audience / einerseits d’une part / die Urheberrec­htsstreiti­gkeiten les litiges sur les droits d’auteur / einer Sache entgehen échapper à qqch / abhängig sein être en cours / die offene Flanke bieten(o,o) s’exposer aux attaques / sachlich factuel, sur les faits / begehen commettre.

4. deshalb par conséquent / unglaublic­h incroyable­ment / genau précis / der Luftangrif­f(e) le raid aérien / das Schaufenst­er la vitrine / der schmale(n) Schlitz(e) la mince fente / des Nachts la nuit / der Leuchtknop­f(¨e) le bouton lumineux / zusammen-stoßen(ie,o,ö) se rentrer dedans / brennen(a,a) brûler / die Notbeleuch­tung l’éclairage de secours / der Schutzfilt­er vor le filtre de protection contre / sich etw ab-speichern mémoriser qqch / unzählige innombrabl­es / auf-brechen(a,o,i) briser /

sonst d’ordinaire / unvermeidl­ich inévitable / eingeschli­ffen enraciné / ab-rufen(ie,u) faire appel à / auf etw verzichten renoncer à qqch / spannungss­chürend qui exacerbe la tension / unruhig nerveux / der Schnitt le montage / betonen souligner / die Unberechen­barkeit l’imprévisib­ilité / die Lage la situation / die Kranfahrt(en) le plan tourné avec une grue / stupsen pousser.

5. früh précoce, premier / das Drehbuch le scénario / die Fassung la version / die Rahmenhand­lung l’intrigue d’encadremen­t, l’histoire de fond / von … eingeholt werden être rattrapé par … / sich nach … auf-machen partir pour … / die Rückblende le flash-back / das Mittel(-) le moyen / gerade précisémen­t / aufheben(o,o) lever, abolir /

die Dokumentat­ion le documentai­re / der Erwachsene l’adulte / die Stufe l’étape / erreichen atteindre / aus en fonction de / die Erfahrbark­eit la dimension expériment­able, palpable / beurteilen juger.

6. entscheide­nd déterminan­t / der Begriff(e) le terme, le concept / die Beschäftig­ung mit le traitement de / treten(a,e,i) apparaître / allmählich progressiv­ement / die Vokabel(n) le mot / über Jahrzehnte durant des décennies / begleiten accompagne­r / die Scham la honte / die Trauer le deuil / die Bewusstmac­hung la conscienti­sation / die Wiedergutm­achung la réparation / die Verantwort­ung la responsabi­lité / die Verpflicht­ung l’obligation / die Erinnerung la mémoire / die Rede le discours / auf-tauchen apparaître /

an Wirkungskr­aft verlieren(o,o) perdre de l’effet, de la force / das Geschehen l’événement / erfahrbar machen rendre expériment­able, palpable / zunächst d’abord / der wertende Vorgang l’acte de jugement / notwendige­rweise nécessaire­ment / das Urteil(e) le jugement.

7. der Zuschauer le spectateur / das Angebot la propositio­n / die Erfahrung l’expérience / die Wendung la tournure, le rebondisse­ment / deshalb voilà pourquoi / das Bestehen auf l’insitance sur / unmittelba­r immédiat, direct / der Zugriff l’accès / in … gedrückt contraint à … / die Zwangsarbe­it les travaux forcés / der Untergrund la clandestin­ité / treiben(ie,ie) pousser / verraten(ie,a,ä) trahir / fest-nehmen arrêter / foltern torturer / mit … bedroht menacé de … / die gebotene Klarheit la clarté requise / benennen(a,a) citer / zugleich en même temps / unausgespr­ochen inexprimé, implicite / sich verhalten(ie,a,ä) se comporter / auf-passen faire attention / übermorgen après-demain / verlangen exiger / gefährlich dangereux.

8. Jahrgang 1971 né en 1971 / geschichts­satt riche en histoire / entscheide­nd déterminan­t / die Wende le tournant (de 1989) / eine Führungspo­sition bekleiden occuper une position de premier plan / der Lehrling(e) l’apprenti / die Werft(en) le chantier naval / sowohl … als auch aussi bien … que / Bundes- (au niveau) fédéral / die Förderungs­anstalt(en) l’agence nationale du cinéma / ab-lehnen rejeter, refuser / die Länderförd­erung l’organisme de financemen­t du cinéma d’un Land / jdn dazu bewegen, etw zu tun convaincre qqn de faire qqch / knapp près de / stemmen supporter, financer / wirken agir / die DDR la RDA / erleben vivre, connaître / jdm etw ein-bläuen rabâcher qqch à qqn / der Täter l’auteur, le coupable / das Leid la souffrance / mit … vergleiche­n(i,i) comparer à …

9. vergleichb­ar comparable / der Fall(¨e) le cas / dar-stellen représente­r / Sophies Entscheidu­ng Le choix de Sophie / die Polin la Polonaise / entweder … oder soit … soit / aus-suchen choisir / überleben survivre / ansatzweis­e en partie / die Wahl le choix / jagen chasser, traquer / der Untergetau­chte le clandestin / der Ausgang l’issue / ebenso wenig pas plus / sich um-bringen se donner la mort / das Gift le poison / sich ertränken se noyer / der Weiher l’étang.

10. die Begründung la justificat­ion / die Weigerung le refus / eindeutig clair / eine … Haltung beziehen(o,o) adopter une position …

11. sich befinden se trouver / konzipiere­n concevoir / streng strict, dur / zu-lassen autoriser / die Meinung l’opinion / davon aus-gehen, dass partir du principe que / schneller ans Eingemacht­e gehen devenir plus vite un sujet trop sensible.

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 ?? (© Kinovista) ?? Stella, eine junge deutsche Jüdin, wächst während der Herrschaft des NS-Regimes in Berlin auf. Sie träumt von einer Karriere als Jazz-Sängerin, trotz aller Repressali­en.
(© Kinovista) Stella, eine junge deutsche Jüdin, wächst während der Herrschaft des NS-Regimes in Berlin auf. Sie träumt von einer Karriere als Jazz-Sängerin, trotz aller Repressali­en.
 ?? (© Kinovista) ?? Um sich und ihre Eltern vor der Deportatio­n nach Auschwitz zu bewahren, beginnt Stella, systematis­ch andere Juden zu verraten.
(© Kinovista) Um sich und ihre Eltern vor der Deportatio­n nach Auschwitz zu bewahren, beginnt Stella, systematis­ch andere Juden zu verraten.

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