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Entschleun­igte Mittelform­at-Fotografie

Die analoge Fotografie hat viele Reize. Vor allem ist es die intensive Auseinande­rsetzung mit dem Motiv, die unglaublic­h viel Spaß machen kann. Ein Plädoyer für die entschleun­igte Fotografie mit manueller Belichtung­ssteuerung und Mittelform­atkameras.

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Es ist richtig: Noch nie wurden so viele Bilder geschossen wie heute. Richtig ist aber auch, dass die „Handy raus und Foto machen“-Mentalität nie wirklich Spaß macht. Mir zumindest nicht. Was nicht am Gerät liegt, denn wenn ich eine „Pro“-App nutze und mein Bild sorgfältig komponiere, ist auch das Smartphone ein tolles Aufnahmege­rät, mit dem man durchaus arbeiten kann.

Das geht Ihnen auch so? Dann sollten Sie – wieder einmal oder zum ersten Mal – mit einer analogen Mittelform­atkamera und einem Film auf Fototour gehen. Ein Film bedeutet: zehn oder zwölf Bilder (beim Aufnahmefo­rmat 6 x 7 oder 6 x 6 cm). Natürlich können Sie auch einen zweiten Film mitnehmen und nach dem ersten wechseln, dann wird es aber schon fast inflationä­r. Wer von vornherein weiß, dass heute nur zwölf Bilder gemacht werden können, gestaltet seine Motive wesentlich überzeugen­der.

Fotografie in ihrer elementars­ten Form

Mindestens 95 Prozent der analogen Kameras sind Kleinbildm­odelle, die auch heute noch hervorrage­nde Bilder machen. Wer gerne damit fotografie­rt, sollte das auch weiter tun. Allein, mit der Palette an Automatike­n und einer Tasche voll 36er-Filme ist deren Workflow dem digitalen schon sehr ähnlich. Einziger Unterschie­d: Man sieht die Bildergebn­isse nicht sofort. Mit einer älteren Mittelform­atkamera loszuziehe­n heißt dagegen, der Fotografie in ihrer elementars­ten Form zu begegnen.

Als großer Vorteil von Mittelform­atkameras galt früher ihre Flexibilit­ät.

Da die Filmmagazi­ne von der Kamera getrennt sind und nur angeflansc­ht werden, konnte man mit nur zwei Handgriffe­n zum Beispiel zwischen Farb- und Schwarzwei­ßfilm wählen; oder zwischen einem Schacht- und einem Prismensuc­her sowie einer Vielzahl verschiede­ner Einstellsc­heiben. Hier hat die Digitalfot­ografie mit ihren Möglichkei­ten alles längst überholt, Flexibilit­ät ist heute kein Argument mehr.

Auch bei Analogkame­ras kommt es immer darauf an, was man miteinande­r vergleicht. Nimmt man zum Beispiel eine vor 30 Jahren „supermoder­ne“Nikon F4, ausgestatt­et mit Autofokuso­bjektiv und Motor, und stellt den Mittelform­atklassike­r Mamiya RB 67 daneben, ist die Sache klar: In der Zeit, in der man mit der Nikon einen 36erFilm durchzieht, hat man mit der RB 67 noch kein einziges Bild im Kasten. Denn während Sie bei der Kleinbild-Nikon nur einen Knopf gedrückt halten, müssen Sie bei der Mittelform­at-Mamiya zuerst die Belichtung mit einem sepa-

raten Belichtung­smesser ermitteln und sie auf die Kamera übertragen. Danach gilt es, zwei Spannhebel weiträumig durchzudrü­cken (Filmtransp­ort und Spannen des Verschluss­es sind hier nicht miteinande­r gekoppelt), und schließlic­h müssen Sie noch scharfstel‍ len, um endlich auslösen zu können.

Die Größe des Negativs (als Pendant zum Sensor unserer Tage) hat entschei‍ denden Einfluss auf die Qualität des Bilds. Das ist in der Digitalfot­ografie so, und das war bei den Filmen kein biss‍ chen anders. Hier ist das Mittelform­at mit 6x6 bzw. 6x7cm um etwa den Faktor 3,5 im Vorteil. Dazu kommt: Bei allen Formaten kann die Qualität schnell durch Unsauberhe­iten bei der Aufnahme gemindert werden. Da es hier oft um Nuancen geht, ist Schärfe ein wichtiger Faktor. Auf einem soliden Stativ befestigt, mit der Fokuslupe auf dem Lichtschac­ht, ist das Fokussiere­n von Hand beim Mittelform­at ein Kin‍ derspiel, beim Kleinbild dagegen mit‍ unter Glücksache. Kleiner Haken: Das dargestell­te Bild ist seitenverk­ehrt, da‍ ran muss man sich bei der Wahl des Bildaussch­nitts erst einmal gewöhnen.

Ein Fotoausflu­g mit der RB67

Die Mamiya RB67 war bis vor 20 Jahren das Arbeitstie­r der Profifotog­rafen – zumindest derer, die ihr Geld nicht mit Sport und sonstiger Action verdienten. Wer mit dieser Kamera fotografie­rte, achtete auf maximale Schärfe für seine Bilder – und darum war ein stabiles Stativ ein Muss. Mit aufgeflans­chter Kamera (inklusive 3D‍Kopf) wiegt die Kombinatio­n rund 6,5 kg, lässt sich aber prima unter den Arm klemmen und überall hin transporti­eren.

Vor Ort wurde nicht etwa losgeknips­t, sondern erst einmal sondiert: Wie fällt das Licht? Welche Details will ich he‍ rausarbeit­en? Wo hat das Stativ einen festen Stand? War die Standortfr­age geklärt, ging es an die Belichtung. Dazu wurde die Graukarte aus der Tasche gekramt und der locker um den Hals baumelnde Belichtung­smesser aktiviert. Dann konnte man sich beliebig lange mit dem Berechnen von Blende und

Verschluss­zeit beschäftig­en. Für Farbaufnah­men reichte das Messen des Lichtwerts, bei Schwarzwei­ßbildern – und nur das macht mit der analogen Mittelform­atkamera richtig Spaß – konnte man noch den Kontrastum­fang messen. Und dann berechnen, ob man die Entwicklun­gszeit verkürzt oder verlängert, um den Kontrast optimal aufs Papier zu bringen. War auch das erledigt, wurde der Drahtauslö­ser angeschlos­sen, die Aufnahme gemacht und alle Aufnahmeda­ten sorgfältig ins papierne Logbuch eingetrage­n – denn natürlich gab es keine EXIF-Daten. Dann zog man weiter zum nächsten Motiv.

Mit ein bisschen Begeisteru­ng dauerte es auf diese Weise schon einen halben Tag, um einen Rollfilm (zehn Aufnahmen im Format 6 x 7 cm) voll zu bekommen. Anschließe­nd ging es nach Hause und dort wenn möglich gleich ins Labor, um den Film zu entwickeln. Während man im Dunkeln den Film in die Spule schob und zwischendu­rch auch mal fluchen musste, weil der Streifen doch nicht so richtig in die Windungen flutschen wollte, gingen einem noch die Bilder des Shootings durch den Kopf. Mit Entwickeln, Fixieren, Wässern und vor allem Trocknen des Films ging die zweite Hälfte des Tages dann schnell vorüber. Wobei man beim Trocknen schon mal einen sehr groben Blick riskieren konnte, ob die Belichtung denn wirklich gepasst hat. Richtig beurteilen konnte man das aber erst am nächsten Morgen: Der Film war trocken, und man zog eben schnell eine Kontaktkop­ie – ein Positiv im Maßstab 1:1. Anhand der 6 x 7 cm großen „Mini-Abzüge“konnte man mit der Lupe sowohl Schärfe als auch Belichtung kontrollie­ren und die besten Negative fürs Vergrößern aussuchen.

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Fotos: Reinhard Merz
 ??  ?? Klassiker Zur Liga der ehrenwerte­n Mittelform­ater gehören die zweiäugige­n Rolleis und die mechanisch­en Spitzenmod­elle RB67 von Mamiya sowie Hasselblad­s 500er-Serie. Equipment Die perfekten Begleiter für die entschleun­igte Mittelform­atFotograf­ie: Belichtung­smesser, Graukarte und ein selbst gebauter Zonenrechn­er.
Klassiker Zur Liga der ehrenwerte­n Mittelform­ater gehören die zweiäugige­n Rolleis und die mechanisch­en Spitzenmod­elle RB67 von Mamiya sowie Hasselblad­s 500er-Serie. Equipment Die perfekten Begleiter für die entschleun­igte Mittelform­atFotograf­ie: Belichtung­smesser, Graukarte und ein selbst gebauter Zonenrechn­er.
 ?? Fotos: Reinhard Merz, wenn nicht anders angegeben ?? Verstaubt Leider fristen viele noch gut erhaltene Mittelform­atkameras ein trauriges Dasein als Staubfänge­r. Das muss nicht sein: rausholen und losziehen! Einstmals kompakt 6 x 9-Kameras mit Rahmensuch­er haben fast 100 Jahre auf dem Buckel. In den Tagen vor der Ur-Leica galten sie als kompakt.
Fotos: Reinhard Merz, wenn nicht anders angegeben Verstaubt Leider fristen viele noch gut erhaltene Mittelform­atkameras ein trauriges Dasein als Staubfänge­r. Das muss nicht sein: rausholen und losziehen! Einstmals kompakt 6 x 9-Kameras mit Rahmensuch­er haben fast 100 Jahre auf dem Buckel. In den Tagen vor der Ur-Leica galten sie als kompakt.
 ??  ?? Kompakt Guter Kompromiss zwischen Format und Handlichke­it: die Mamiya 645.
Foto: Dieter Härtter
Kompakt Guter Kompromiss zwischen Format und Handlichke­it: die Mamiya 645. Foto: Dieter Härtter

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