Die knallbunten 70er
Vor 50 Jahren war die Zeit reif für „Color. Das farbigste Magazin für Foto, Film, Ton.“So hieß in den 1970er-Jahren die Zeitschrift, die später zu ColorFoto wurde. Damals zog die Mikroelektronik in Kameras ein, die Blitztechnik wurde revolutioniert, und die Entwicklungsverfahren C41 und E6 mauserten sich zum Standard für Farbnegative und Dias.
Mit dummen Fragen fängt jede Revolution an. Dieser Joseph Beuys zugeschriebene Satz trieb auch die Redaktion der von Joachim F. Richter gegründeten neuen Zeitschrift Color an. „Noch bessere Bildgüte durch Multicoating? Ist das überhaupt technisch noch möglich?“fragte man gleich in der ersten regulären Ausgabe. Und weiter: „Die Farbfilme sind in der Lage, alle Licht- und Farbeindrücke optimal wiederzugeben, unsere Objektive sind ein- bis zweimal reflexvergütet und erzeugen ein brillantes Bild – wo will man in diesem Zusammenspiel der modernen technischen Verfahren nun nochmals einen Bildqualitätsgewinn erzielen?“
„Optische Spitzenleistungen“
Was war passiert? Asahi Pentax hatte gerade angekündigt, Objektive zukünftig mehrschichtig zu vergüten – was ein Abfallprodukt aus der Weltraumforschung war. Nach eingehender Prüfung fällte die Redaktion ihr Urteil, das wir hier gerne in Originalschreibweise (Camera!) wiedergeben: „Es ist kein Zufall, daß gerade die SystemCameras von Asahi Optical mit derart hochwertigen Objektivsystemen ausgerüstet sind. Die Vielseitigkeit der Cameras in Verbindung mit optischen Spitzenleistungen bringen den Gewinn, der überlegen macht. Denn jeder Faktor in der Kette technischen Zusammenspiels muß in derart diffizilen Systemen stimmen und Optimales
leisten. Mit dem Super-Multi-CoatingVerfahren wird in den nächsten Monaten ein neuer Meilenstein in der Entwicklung des Objektivbaus erreicht.“Es sollte nicht der letzte Meilenstein des Jahrzehnts sein. Schon Mitte der 1960er-Jahre waren die ersten Kameras mit Belichtungsmessung durch das Objektiv (Through The Lens, TTL) aufgetaucht. Das Besondere: Der Belichtungsmesser empfängt die gleiche Lichtmenge wie Sucherbild bzw. Film. Der Messwinkel des Belichtungsmessers ist zwangsläufig identisch mit dem Bildwinkel des jeweils eingesetzten Objektivs. Auch das umständliche Rechnen mit Verlängerungsfaktoren beim Arbeiten mit Filtern entfällt. Sogar Nahaufnahmen sind auf einmal ohne Umrechnung der gemessenen
Belichtung möglich. Ein wahrer Segen für alle Fotoamateure. Zu den TopKameras fürs Kleinbild gehörten z.B. die Canon FX und die Minolta SR-T 101. Größerformatiges Hightech kam aus Deutschland von Linhof (AeroTechnika 4x5 mit pneumatischem Vakuumsystem) und ein paar Jahre später von Rollei (Rolleiflex SLX als erste vollelektronische Mittelformatkamera).
Entwicklung in Minutenschnelle
1971 stellte Canon das erste Tilt-undShift-Objektiv für Perspektivkorrektur und Schärfedehnung beim Kleinbild vor – 2,8/35 mm –, ein Jahr später präsentierte Polaroid-Mastermind Edwin Land das integrale Sofortbildsystem SX-70. Innerhalb von zehn Sekunden konnte man damit fünf Bilder belichten, die sich binnen vier Minuten selbst entwickelten. Kodak, damals noch der gelbe Riese der Fotobranche führte das Pocket-Format 13×17mm sowie den C41-Prozess als Standardverfahren für die Negativfilmentwicklung ein. Ein paar Jahre später löste dann auch der E-6-Entwicklungsprozess E-4 als Standard für Diafilme ab.
Wer unabhängig vom Tageslicht fotografieren wollte, blitzte auch damals schon – aber das hatte seinen Preis. Entweder man hatte ein sündteures und kiloschweres Profigerät, oder man arbeitete mit Einwegblitzlampen und -würfeln. In den 1970er-Jahren kamen dann kompakt gebaute Elektronenblitzgeräte auf den Markt. Einer der Vorreiter beim Miniaturisierungstrend war Agfa-Gevaert mit der AgfatronicSerie (Leitzahlen von 14 bis 22). Die Stars dieser Serie setzten Maßstäbe durch die revolutionäre Technik der Schnelladung. Schon 15 Minuten genügten, um bei leergeblitztem Akku wieder am Start zu sein.
Raketentechnik für die Kamera
Ein weiteres Jahr später war der Durchbruch beim Blitzen endgültig geschafft. Die Color-Redaktion zeigte sich zufrieden: „Das Gebiet der Elektronenblitze, das von allen Zweigen der Fotografie immer der ruhigste war, ist vor einigen Jahren mit der Einführung des Computers ganz plötzlich erwacht und hat seitdem einen ständigen Aufschwung genommen. Nicht zuletzt auch wegen der Einführung von elektronischen Techniken und Bauteilen, die sich in der Datenverarbeitung, in der Raketentechnik und in der Raumfahrt bereits bewährt haben.“
Die berühmte „Kamera der Spione“präsentierte sich in neuer, superautomatischer und transistorisierter Ausführung: die Minox C mit stark verbessertem Ladesystem und Filmtransport. Die Kameratests ähnelten durchaus schon denen von heute, wenn auch weniger ausgefeilt: Testtafelaufnahmen gaben Aufschluss über Auflösung und Co., ein Praxistest listete Vor- und Nachteile beim Handling auf. In diesem Fall lautete das Fazit: „Die MINOX C ist ein ausgesprochenes Präzisionsgerät. Seine Grenzen liegen eben in der Sorgfalt und Genauigkeit, mit der man das so reduzierte Gerät behandeln muß und für das es fast unerläßlich ist, die Dunkelkammerarbeit selbst auszuführen.“Auch an der Objektivfront brachten die 70er viele Neuheiten. Vom lichtstarken
Normalobjektiv Leica Noctilux 1:1,2 (O-Ton Color: „Das Objektiv, das alle Licht-Schwierigkeiten überwindet. Ein Erfahrungsbericht über das „PantherAuge“unter den Spitzen-Objektiven am Welt-Markt“) bis zur langen Tüte mit 400 mm Brennweite testete sich Color durchs Angebot. Am Ende eines großen 135-mm-Vergleichstests zogen die Tester Bilanz: „92 Schwarzweißund 36 Farbfilme, 350 oszillografische Aufzeichnungen, 2500 exponierte Aufnahmen und viele Monate Redaktionsarbeit. Dies ist, was hinter unserem Vergleichs-Test mit den wichtigsten 135 mm Teleobjektiven steht, und worüber wir in diesem Heft unsere Veröffentlichungen abschließen.“
Geburtsstunde der Zoomobjektive
Ebenfalls in jenem Jahrzehnt: Mit dem Vivitar Serie I 3,5/70–210 beginnt der Siegeszug der Zoomobjektive. Aber alles zu seiner Zeit. Zunächst noch als „Gummilinsen“verspottet, schlossen sie erst zwei Jahrzehnte später qualitativ zu den Festbrennweiten auf. Auch große Vergleichstest gehörten damals schon zum redaktionellen Angebot. Zu den weiteren Highlights in der ersten Hälfte des Jahrzehnts gehörten die Olympus OM-1 („Vornehm für sich gestellt, tauchte während der letzten Wochen in den Auslagen führender Fotofachgeschäfte ein Unikum auf. Es ist klein, sieht aus wie eine richtige, einäugige Spiegelreflex: Olympus OM-1“), die Minox 35 EL („Ein geradezu faszinierendes Spielzeug für erwachsene Kinder, bei dem jeder sofort sagte: „Habennn!“), die Contax RTS („… eine in der Geschichte des Kamerabaues wohl einzigartige Mischung aus tatsächlich vollendeter Technik und absolutem, unbegreifbarem Dilettantismus“) und schließlich eine Kamera, die für 30 lange Jahre das Arbeitspferd der StudioProfis sein sollte: die Mamiya RB67 S. 1976 kam die Canon AE-1 heraus, die erste Kleinbildspiegelreflexkamera mit Mikroprozessor, ein Blendenautomat mit Zeitvorwahl. ColorFoto, so hieß die Zeitschrift mittlerweile, war begeistert: „Die richtige Belichtung wird durch die automatische Steuerung der Objektivblende je nach der Filmempfindlichkeit, der gewählten Belichtungszeit und den vorherrschenden Beleuchtungsverhältnissen erreicht. In Verbindung mit dem Computerblitzgerät von Canon, Speedlite 155 A, stellt sich automatisch die Blitzbelichtungszeit und auch automatisch die am Blitzcomputer eingestellte Blende ein und gewährleistet dadurch automatisch eine richtige Blitzbelichtung.“
Im selben Jahr spendierte Olympus der OM-2 die „autodynamische“Belichtungsmessung auf dem Vorhang oder der Filmoberfläche und damit erstmals TTL-Blitzlichtmessung. Minolta setzte im folgenden Jahr noch eins drauf: Die XD-7 war die erste SLR-Kamera mit Mehrfach-Automatik, die „3x-GrünMethode“ein Vorläufer der Programmautomatik. Das Fazit von Tester Alexander Borell – ja der, der in anderen Zeitschriften Lebensfragen beantwortete – klingt fast prophetisch: „Wozu brauche ich noch Handrädchen mit Zeiten-Einstellung und Belichtungskorrekturen, wenn man anderswo bereits mit leichtem Knopfdruck wesentlich kompliziertere mathematische Vorgänge einschließlich Selbstkontrolle ausführen kann? Der Weg scheint mir vorgezeichnet. Minolta ist ein gutes Stück auf diesem Weg vorwärtsgekommen.“Bestücken konnte man die Kameras nun mit den ersten hochempfindlichen Farbnegativfilmen: Fujicolor II 400 und Kodacolor 400. Apropos Empfindlichkeit:
Noch vor Ende des Jahrzehnts, brachte die zusammengesetzte Empfindlichkeitsangabe ISO den amerikanischen ASA- und den deutschen DIN-Standard unter einen Hut. 1978 hatte die Auflage von ColorFoto die 100 000er-Marke schon lange überschritten und Konica die FS-1 als erste KB-SLR mit integriertem Filmtrans
portmotor auf den Markt gebracht. Das Metz-SCA-System machte Fremdblitzgeräte mit den Systemfunktionen verschiedener Hersteller kompatibel, und mit Kodaks Ektachrome 400 wurden jetzt auch Diafilme hochempfindlich (ISO 400/27°). Sogar im klassischen Schwarzweiß-Labor brachen bunte Zeiten an: Bei den von Ilford eingeführten Multigrade-Materialien konnte man mit farbigen Folien die Gradation des Papiers variabel steuern.
Das verhalf dem Fotolabor – landläufig abfällig Dunkelkammer genannt – noch einmal zur Blüte. Es sollte die letzte sein. Denn in den Kodak-Labors hatte in diesem Jahrzehnt die erste Digitalkamera das Licht der Welt erblickt. Steven Sasson und Jim Schueckler verwendeten für ihr Modell einen FairchildCCD-Chip mit 100×100 Pixeln Auflösung. Er steckte in einem Gehäuse mit 3,6 Kilogramm Gewicht, Aufnahme und Datenspeicherung auf Kassette dauerten 23 Sekunden. Noch nicht wettbewerbsfähig, aber der Anfang war gemacht.