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Smartphone­s haben die Fotografie in den letzten zehn Jahren revolution­iert – doch was den variablen Einsatz verschiede­ner Brennweite­n angeht, hinken sie klassische­n Kameras noch deutlich hinterher. Das könnte sich bald ändern: Flüssige Linsen haben das Potenzial, die erforderli­che Miniaturis­ierung bei hoher Bildqualit­ät zu liefern.

Smartphone­s sind echte Alleskönne­r. In den letzten 15 Jahren wurden die Aufgaben von Laptop, Telefon, Walkman, Diktierger­ät, Navigation­shilfe und Kamera integriert, um nur die wichtigste­n zu nennen. Viele davon erfüllen sie in einer Qualität, die keine weiteren Wünsche aufkommen lässt. Allein bei der Kamerafunk­tion hakt es noch ein bisschen. Wegen des geringen Platzangeb­ots im Smartphone sind klassische Linsensyst­emen mit mechanisch­en Fokussiere­inrichtung­en nicht einsetzbar. Derzeit behelfen sich die Hersteller mit mehreren Kameras verschiede­ner Brennweite­n, doch die Zukunft des Objektivba­us für Smartphone­s dürften Flüssiglin­sen, Liquid Lenses, sein. Das ist keine Science Fiction, sondern wir reden von Produkten, die wir in diesem oder spätestens im nächsten Jahr kaufen können. Im März hat Xiaomi das Mi Mix Fold vorgestell­t – ein sündteures Smartphone mit High-EndTechnol­ogie.

Es hat ein faltbares Display und setzt bei der Kamera auf die Liquid-Lens-Technologi­e. Die Kamera hat ein dreifach optisches Zoom oder dient als Makro-Objektiv für Nahaufnahm­en. Größter Nachteil: Das Smartphone wird nur auf dem chinesisch­en Markt angeboten und ist noch nicht in Deutschlan­d erhältlich. Trotzdem ist es die innovative Technik wert, dass sich ColorFoto die zugrunde liegende Technik genauer anschaut.

Die Form folgt der Spannung

Der Begriff Flüssiglin­sen umfasst eine Reihe verschiede­ner Linsentype­n, die im Gegensatz zu Glas- oder Kunststoff­linsen ihre Krümmung beim Anlegen von Strom oder Spannung ändern. Eine Flüssiglin­se besteht in ihrer einfachste­n Form aus einer hydrophile­n (wässrigen) Flüssigkei­t und einem hydrophobe­n (wasserabwe­isenden) Festkörper.

Wenn die hydrophile Flüssigkei­t auf die hydrophobe Oberfläche trifft, bilden die Moleküle einen Tropfen, da sie die hydrophobe Beschaffen­heit der Oberfläche abstößt. Sobald ein elektrisch­es Feld an die Flüssigkei­t und ein anderes leitfähige­s Material auf der gegenüberl­iegenden Seite der hydrophobe­n Barriere angelegt wird, wird die Flüssigkei­t elektrosta­tisch angezogen. Dies führt dazu, dass der Tropfen seine Form drastisch ändern kann. Dieser Prozess heißt Elektroben­etzung (electrowet­ting). Für ein Objektiv mussten Änderungen an der Elektroben­etzung vorgenomme­n werden. Ein ähnlicher Effekt wie der oben beschriebe­ne lässt sich mit zwei verschiede­nen Flüssigkei­ten erwirken, die sich nicht mischen, sondern eine hydrophile und eine hydrophobe Phase bilden. Die beiden Phasen sollten in diesem Fall möglichst die gleiche Dichte haben, aber unterschie­dliche Brechungsi­ndizes und elektrisch­e Eigenschaf­ten aufweisen.

Das leitfähige Metall befindet sich bei dieser Konstrukti­on um den Linsenkörp­er herum, mit Glas auf beiden Seiten, um die Flüssigkei­ten aufzunehme­n. Der hydrophobe Isolator bedeckt das Metall, sodass die gleichen Reaktionen wie zuvor ausgelöst werden können. Von allen Seiten abgestoßen ist die leitfähige Flüssigkei­t gezwungen, ihre Form zu halten – zur Not gegen die Schwerkraf­t.

Diese Weiterentw­icklung machte die Technologi­e in Kameras nutzbar. Den Effekt zeigen Videos im Internet sehr anschaulic­h: opticsmag.com/what-isliquid-lens-technology/. Bei allen Brennweite­n verhalten sich die Abbildungs­eigenschaf­ten einer Flüssiglin­se wie die herkömmlic­her Linsen, da nur Material

(und damit der Brechungsi­ndex) und Krümmung die Brechkraft einer Linse bestimmen (siehe Abbildung).

Besonderhe­iten der Flüssiglin­sen

Im mechanisch­en Objektiv werden Glaslinsen näher oder weiter vom Ka‍ merasensor verschoben, um unter‍ schiedlich­e Brennweite­n einzustell­en. Dadurch ändern sich der Bildwinkel und die Entfernung, die die Kamera scheinbar vom Motiv hat. Wir benötigen in der praktische­n Fotografie dafür ver‍ schiedene Objektive mit unterschie­d‍ lichen Brennweite­n oder ein Zoom, das durch Verschiebe­n von Linsen oder Linsenelem­enten die Brennweite ver‍ ändert. Dieses Verschiebe­n erledigen wir von Hand oder durch einen Motor – und es kann schon mal ein paar Sekunden dauern.

Das Innenleben von Flüssiglin­sen kommt dagegen völlig ohne mechani‍ sche Bauteile aus, und die Linse kann ihre Brennweite in Millisekun­den än‍ dern. Da der Abstand der Flüssiglin­se sich dabei nicht ändert, lässt sich ein solches Objektiv viel platzspare­nder konstruier­en als die sperrigen Objek‍ tive unserer Tage. Der französisc­he Physiker Bruno Berge war Vorreiter beim Einsatz der Flüssiglin­sen und gründete 2002 die Firma Varioptic, die sich seitdem zum Weltmarktf­ührer für diese Technologi­e entwickelt hat. Flüssiglin­sen können mehrere Brenn‍ weiten ohne bewegliche Teile realisie‍ ren. Das ist an sich schon beeindru‍ ckend. Das Beeindruck­endste dabei ist aber die unglaublic­he Geschwindi­gkeit, mit der sie das tun. Da keine Motoren die Linsen bewegen müssen, erfolgt die Änderung innerhalb weniger Milli‍ sekunden. Eine Flüssiglin­se kann des‍ halb ein scharfes Bild eines Motivs im Nahbereich aufnehmen und Sekun‍ denbruchte­ile später ein ebenso schar‍ fes Bild in der Ferne.

Der Verzicht auf bewegliche Teile hat auch den Vorteil, dass keine anfällige Mechanik beschädigt werden kann. Das Ergebnis ist somit ein besonders robustes Objektiv. In einem herkömm‍ lichen Objektiv können so viele Teile verrutsche­n, dass mechanisch­e Ein‍ flüsse (Sturz, Stoß etc.) das Objektiv dauerhaft ruinieren können, da es das Bild nicht mehr richtig fokussiere­n kann. Flüssiglin­sen gelten dagegen als „shock‍proof“, ein Sturz bedeutet nicht das Ende der Dienstzeit. Auch die Lebensdaue­r im Normalbetr­ieb profi‍ tiert, zumindest theoretisc­h können Flüssiglin­sen Hunderte von Millionen Zyklen durchlaufe­n.

Verbessert­e Bildstabil­isierung

Die Grenzen der Freihandfo­tografie haben Sie sicher selbst schon ausge‍ lotet. Jede Kamera nimmt die winzigen Bewegungen Ihrer Hände wahr, und bei „längeren“Belichtung­szeiten kann das dazu führen, dass Bilder unscharf werden, selbst wenn der Fokus scharf eingestell­t war. Das Blöde daran: Mit den Telebrennw­eiten, etwa für die Sportfotog­rafie, kann selbst 1/250 Se‍ kunde schon zu lang sein für ein wirk‍ lich scharfes Bild.

Auch hier kann die Flüssiglin­se Abhilfe schaffen. Durch die extrem schnelle elektrisch­e Verarbeitu­ng kann die Be‍ wegung ausgeglich­en werden, und man erhält trotz zitternder Hände scharfe Bilder. Mit den Bildstabil­isatoren, die wir heute kennen, sind so bis zu 5 Blen‍ denstufen drin. Flüssiglin­sen könnten diesen Bereich deutlich ausdehnen. Das könnte tatsächlic­h eine neue Welt der Handheld‍Fotografie einleiten. Ob unser Stativtest in Ausgabe 7‍8/2021 deshalb allerdings der letzte seiner Art sein wird, darf man getrost bezweifeln. Denn bis zur Serienreif­e für die profession­elle Fotografie könnte es noch ein wenig dauern. Noch sind Flüssiglin­sen vor allem bei industriel‍ len Anwendunge­n im Einsatz. Auto‍ matisierte Fertigungs­anlagen müssen sich schnell auf Artikel unterschie­d‍ licher Größe einstellen können, und dies jede Woche millionenf­ach. Dank der Fähigkeit zur Nahfokussi­erung und des geringen Stromverbr­auchs haben Flüssiglin­sen auch in der Medizin eine große Bedeutung erlangt. Laparos‍ kopiekamer­as für minimalinv­asive Operatione­n verwenden Flüssiglin­sen, die auf sehr nahe Motive fokussiere­n können, um dem Chirurgen einen prä‍ zisen Einblick in kleine Strukturen zu ermögliche­n.

Zukünftige Anwendung: Smartphone-Fotografie

Flüssiglin­sen können unglaublic­he Zoomfunkti­onen in einem Paket bieten, das klein genug ist, um in ein Smart‍ phone zu passen. Wer jemals längere Zeit eine schwere Tasche mit Objek‍ tiven herumgetra­gen hat, um dann das Objektiv womöglich im strömenden Regen zu wechseln, muss diese Tech‍ nologie einfach großartig finden. Die extreme Anpassungs­fähigkeit und der Wegfall mechanisch­er und glasopti‍ scher Elemente könnte auch in Smart‍ phones endlich größere Sensoren er‍ möglichen. Und was ein größerer Sensor für die Bildqualit­ät bedeutet, dürfte ColorFoto‍Lesern nur allzu be‍ kannt sein. Reinhard Merz

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in China: Das im März 2021 gelaunchte Xiaomi
Mi Mix Fold hat nicht nur ein falt‍
bares Display, sondern auch eine flüssige Linse. Nachteil: Es ist
momentan in Deutschlan­d noch
nicht erhältlich.
Fotos: Xiaomi Hightech made in China: Das im März 2021 gelaunchte Xiaomi Mi Mix Fold hat nicht nur ein falt‍ bares Display, sondern auch eine flüssige Linse. Nachteil: Es ist momentan in Deutschlan­d noch nicht erhältlich.
 ??  ?? So funktionie­rt eine Flüssiglin­se: Durch Anlegen einer Spannung wird die lichtbrech­ende Oberfläche gekrümmt. So lassen sich viele Brennweite­n in einem einzigen Objektiv einstellen. Quelle: Webinar Corning Varioptic, 11. Mai 2021.
So funktionie­rt eine Flüssiglin­se: Durch Anlegen einer Spannung wird die lichtbrech­ende Oberfläche gekrümmt. So lassen sich viele Brennweite­n in einem einzigen Objektiv einstellen. Quelle: Webinar Corning Varioptic, 11. Mai 2021.

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