Ein Stück Geschichte verschwindet
Die ehemalige Georg-Müller-Grundschule wird in den nächsten Wochen abgerissen. Bevor hier Kinder lernten, diente das markante Gebäude am Unteren Steinweg einem ganz anderen Zweck.
■ Steinhagen. In den vergangenen Jahren hat Steinhagen zahlreiche prägende Gebäude verloren, die Platz für Neubauten machen mussten. Ein Teil der Häuserzeile an der Straße Am Markt verschwand, damit hier die Ärztehäuser gebaut werden konnten. Ein Eckgebäude des alten Brennereikomplexes am Schlichte-Carree ist dem Bibliotheksneubau gewichen. In Kürze verschwindet ein weiteres markantes Objekt, das eng mit Steinhagener Geschichte verknüpft ist. Es befindet sich an weniger prominenter Stelle etwas versteckt am Unteren Steinweg.
Dort steht das alte Schulgebäude der Georg-MüllerSchule. Noch. Denn wie Michael Pieper, Geschäftsführer der privaten Bekenntnisschule, im Gespräch mit dem „Haller Kreisblatt“mitteilt, finden momentan die Entkernungsarbeiten statt. In den kommenden Wochen wird das Gebäude abgerissen. Bekanntlich besuchen die Schülerinnen und Schüler seit Ostern das neue Schulgebäude, das direkt neben das alte gebaut wurde. Auf der frei werdenden Fläche will die Schule nach dem Abriss eine Sportanlage einrichten.
Der Neubau war nötig geworden, weil die Grundschule aufgrund der großen Nachfrage zu klein geworden war. Eine Sanierung des Bestandsgebäudes galt als unwirtschaftlich. Deshalb entschloss sich der Trägerverein der Georg-Müller-Schulen zu einem Neubau. Für knapp sieben Millionen Euro setzte das Bielefelder Unternehmen Goldbeck die Wünsche nach einer neuen modernen Grundschule um. Vor den Osterferien zogen Schüler und Lehrer in die neuen Räume um.
Militärmäntel für die Wehrmacht genäht
Das alte Schulgebäude hat eine lange Geschichte, die nun endet. Wie aus der Chronik der Georg-Müller-Schule hervorgeht, befand sich an der Adresse Unterer Steinweg 14 früher ein landwirtschaftlich genutztes Gebäude, das der Familie Goldbecker (genannt Brüggehofe) gehörte. Dem Namen nach zu urteilen, dürfte es damit zur Hofanlage am Brückhof gehört haben, in dem sich zuletzt das Hotel-Restaurant Graf Bernhard befand. 1904 wurde das Gebäude an den Musiker Friedrich Faust verkauft.
Fünf Jahre später wurde auf dem Grundstück ein Wohnhaus mit landwirtschaftlichem Betrieb gebaut. Aus einem Nähzimmer in diesem Haus entwickelte sich die kleine Näherei Faust. Nach und nach erhielt das Gebäude immer weitere Anbauten, um die Näherei zu erweitern. Altbürgermeister Klaus Besser weiß, dass bei Faust Damenund Oberbekleidung hergestellt wurde. „Während des Zweiten Weltkriegs nähten die Arbeiterinnen aber auch Militärmäntel für die Wehrmacht“, fügt er hinzu.
Laut der Chronik wurde das Objekt 1953 an das Ehepaar Grabe verkauft, das hier das Bekleidungswerk Steinhagen betrieb. Bis 1982. Dann endete die Ära als Nähereigebäude. Denn in diesem Jahr wurde das Gebäude an die Firma Haagensen Electronic verpachtet. Von nun an wurden elektronische Messund Regelgeräte am Unteren Steinweg produziert. Nachdem Haagensen Electronic seinen Sitz an den Bahndamm verlegte, wurde ein neuer Mieter für das rote Backsteingebäude gesucht.
Die Georg-Müller-Schule wurde auf die Immobilie aufmerksam und mietete sie 1995 an, um hier eine Grundschule einzurichten. Das Gebäude wurde umgebaut, ohne dabei alle historischen Bezüge verschwinden zu lassen. In den einstigen Kontoren im Erdgeschoss, in denen sich ursprünglich die Büros der Näherei befanden, zog die Verwaltung der Schule ein. 1997 wurden die ersten Kinder am Unteren Steinweg eingeschult. Die alte Stechuhr, vor der einst die Fabrikarbeiter morgens Schlange standen, diente nur noch als Dekoelement.
2011 erwarb die Georg-Müller-Schule das historische Gebäude und erweiterte den Komplex 2013 um eine Sporthalle. Um den steigenden Platzbedarf zu decken, stellte die Schulleitung in den vergangenen Jahren zusätzlich Container auf. Erst Bauernhof, dann Näherei und Elektronikfabrik, zuletzt eine Grundschule – das Gebäude dürfte den Steinhagenerinnen und Steinhagenern in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen in Erinnerung bleiben.