NW - Haller Kreisblatt

Das Liebespaar des Jahrhunder­ts

- Von Julia Schoch

Es sollte noch eine ganze Weile dauern, Jahrzehnte, bis sich unsere Sicht auf unsere Eltern änderte. Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat, ob vor der Geburt der Kinder oder erst danach, aber irgendwann beneideten wir sie. Wir beneideten sie um ihre Freizeit, die andauernde­n Reisen, die ständigen Unternehmu­ngen, ihr abwechslun­gsreiches, chilliges Leben. Wie solide sie durchs Alter kamen. Sicher, da war die Revolution gewesen, dieser Bruch in ihrem Leben, der ihnen einiges abverlangt hatte. Aber im Grunde hielten wir diesen Bruch rückblicke­nd für eine Verjüngung­skur. Er hatte ihnen Schwung gebracht, sie herausgefo­rdert, und schließlic­h profitiert­en sie von dem neuen System, auch wenn sie ihm ihr Leben lang kritisch gegenübers­tehen würden. Dass ihre Geschichte, ihr früheres Leben im Kommunismu­s, nicht mehr wichtig war oder nur noch für Anekdoten im Familienkr­eis taugte, fanden wir als Preis dafür hinnehmbar. Ihr symbolisch­es Kapital war aufgefress­en worden vom Lauf der Geschichte, na und? Wir würden auch keins haben. Wer glaubte denn noch an symbolisch­es Kapital, an Werte oder ein Wissen, das man weitergebe­n konnte, sodass eine zukünftige Gesellscha­ft Nutzen daraus zog?

Jede neue Generation spuckt auf die alte oder macht sich zumindest über sie lustig. Was offenbar nicht im Widerspruc­h steht zum Neid.

Während ich sofort nach Paris aufgebroch­en war, um dich zu sehen, musstest du überredet werden, zu mir in den Süden, nach Montpellie­r, zu kommen. Ich rief dich an.

Komm her, sagte ich, hier scheint immer die Sonne.

Du bist tatsächlic­h gekommen. (Noch immer meine Ungläubigk­eit.)

Wir fuhren ans Meer. Der Mistral blies. Der Wind war so stark, dass wir uns unter unsere Handtücher flüchteten. Beim Baden bekamen wir kaum Luft.

Am Abend lud uns jemand zu einem Rave in eine Strandbar ein. Einem Rave?, fragtest du halb amüsiert, halb trotzig, die sollen ihren Rave haben! Bekleidet mit einem Frotteebad­emantel und einem merkwürdig breiten Hut, der irgendwie chinesisch aussah, bist du mit gerecktem Kinn zwischen die Tanzenden marschiert. Sehr schnell, so empfand ich es später, kam es zu einem Streit. Vielleicht lag es an deiner Art, dieser demonstrat­iven Aufmüpfigk­eit, der sich niemand entziehen konnte. Es gab ein Gerangel, ein paar Männer griffen nach dir. Irgendwann lagst du am Boden. Ich sah dein blutversch­miertes Gesicht. Wie betäubt hockte ich neben dir. Schließlic­h fuhr uns jemand mit dem Auto in die Stadt zurück, zum Krankenhau­s. Stärker als alles andere in jener Nacht sind mir die leuchtende­n Buchstaben am Haupteinga­ng der Klinik in Erinnerung: Louis Pasteur.

Vielleicht ist der Beginn allen Schreibens die Gewalt, gepaart mit Erregung und Schönheit. Noch in der derselben Nacht unternahm ich den Versuch, alles aufzuschre­iben, was sich zugetragen hatte, aber da ich betrunken gewesen war, handelte es sich eher um diffuse Eindrücke als um den exakten Ablauf dessen, was wirklich geschehen war. In meinen Aufzeichnu­ngen schaukelte­n die Lichterket­ten der Strandbar heftig, als stünde ich an Deck eines Schiffes, Wolkenfetz­en am Nachthimme­l, das Meer schäumte, der Boden schwankte wie ein Ponton, dazu ein Gefühl, als steckte ich bis zum Bauch im Sand etc.

Noch Jahre danach zitterte ich, wenn ich an den Vorfall zurückdach­te. Gleichzeit­ig war ich der Meinung, er lasse sich in Gesprächen gut erzählen.

(Fortsetzun­g folgt) © 2023 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG, München

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