Das Liebespaar des Jahrhunderts
Es sollte noch eine ganze Weile dauern, Jahrzehnte, bis sich unsere Sicht auf unsere Eltern änderte. Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat, ob vor der Geburt der Kinder oder erst danach, aber irgendwann beneideten wir sie. Wir beneideten sie um ihre Freizeit, die andauernden Reisen, die ständigen Unternehmungen, ihr abwechslungsreiches, chilliges Leben. Wie solide sie durchs Alter kamen. Sicher, da war die Revolution gewesen, dieser Bruch in ihrem Leben, der ihnen einiges abverlangt hatte. Aber im Grunde hielten wir diesen Bruch rückblickend für eine Verjüngungskur. Er hatte ihnen Schwung gebracht, sie herausgefordert, und schließlich profitierten sie von dem neuen System, auch wenn sie ihm ihr Leben lang kritisch gegenüberstehen würden. Dass ihre Geschichte, ihr früheres Leben im Kommunismus, nicht mehr wichtig war oder nur noch für Anekdoten im Familienkreis taugte, fanden wir als Preis dafür hinnehmbar. Ihr symbolisches Kapital war aufgefressen worden vom Lauf der Geschichte, na und? Wir würden auch keins haben. Wer glaubte denn noch an symbolisches Kapital, an Werte oder ein Wissen, das man weitergeben konnte, sodass eine zukünftige Gesellschaft Nutzen daraus zog?
Jede neue Generation spuckt auf die alte oder macht sich zumindest über sie lustig. Was offenbar nicht im Widerspruch steht zum Neid.
Während ich sofort nach Paris aufgebrochen war, um dich zu sehen, musstest du überredet werden, zu mir in den Süden, nach Montpellier, zu kommen. Ich rief dich an.
Komm her, sagte ich, hier scheint immer die Sonne.
Du bist tatsächlich gekommen. (Noch immer meine Ungläubigkeit.)
Wir fuhren ans Meer. Der Mistral blies. Der Wind war so stark, dass wir uns unter unsere Handtücher flüchteten. Beim Baden bekamen wir kaum Luft.
Am Abend lud uns jemand zu einem Rave in eine Strandbar ein. Einem Rave?, fragtest du halb amüsiert, halb trotzig, die sollen ihren Rave haben! Bekleidet mit einem Frotteebademantel und einem merkwürdig breiten Hut, der irgendwie chinesisch aussah, bist du mit gerecktem Kinn zwischen die Tanzenden marschiert. Sehr schnell, so empfand ich es später, kam es zu einem Streit. Vielleicht lag es an deiner Art, dieser demonstrativen Aufmüpfigkeit, der sich niemand entziehen konnte. Es gab ein Gerangel, ein paar Männer griffen nach dir. Irgendwann lagst du am Boden. Ich sah dein blutverschmiertes Gesicht. Wie betäubt hockte ich neben dir. Schließlich fuhr uns jemand mit dem Auto in die Stadt zurück, zum Krankenhaus. Stärker als alles andere in jener Nacht sind mir die leuchtenden Buchstaben am Haupteingang der Klinik in Erinnerung: Louis Pasteur.
Vielleicht ist der Beginn allen Schreibens die Gewalt, gepaart mit Erregung und Schönheit. Noch in der derselben Nacht unternahm ich den Versuch, alles aufzuschreiben, was sich zugetragen hatte, aber da ich betrunken gewesen war, handelte es sich eher um diffuse Eindrücke als um den exakten Ablauf dessen, was wirklich geschehen war. In meinen Aufzeichnungen schaukelten die Lichterketten der Strandbar heftig, als stünde ich an Deck eines Schiffes, Wolkenfetzen am Nachthimmel, das Meer schäumte, der Boden schwankte wie ein Ponton, dazu ein Gefühl, als steckte ich bis zum Bauch im Sand etc.
Noch Jahre danach zitterte ich, wenn ich an den Vorfall zurückdachte. Gleichzeitig war ich der Meinung, er lasse sich in Gesprächen gut erzählen.
(Fortsetzung folgt) © 2023 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München