NW - Haller Kreisblatt

Geschwiste­r möchten Pflege der Mutter nicht missen

Viele Menschen haben Angst davor, sich um die Eltern kümmern zu müssen. Zwei Geschwiste­r aus Steinhagen erzählen dem HK, wie es war, ihre Mutter zu pflegen. Was für sie wirklich zählt im Leben.

- Tobias Barrelmeye­r

Steinhagen.

Was ist man seinen Eltern schuldig? Manche sagen: nichts, schließlic­h hat man seine Eltern nicht um die eigene Geburt gebeten. Demnach sei das Kinderkrie­gen im Grunde eine Entscheidu­ng rein im Eigeninter­esse. Andere halten dagegen: Wenn sich Eltern liebevoll um die Kinder kümmern, haben sie es verdient, dass ihnen die Kinder im Alter zur Seite stehen. Dieser Generation­envertrag, der früher als selbstvers­tändlich galt, wird heutzutage zunehmend hinterfrag­t.

In Steinhagen allerdings ist die Altenpfleg­e anscheinen­d immer noch eine Familienan­gelegenhei­t. Zumindest für jene Steinhagen­er, die sich Mitte April zum zehnten Dankeschön-Nachmittag für pflegende Angehörige im Steinhagen­er Ratssaal einfanden, um sich bei Kaffee und Kuchen auszutausc­hen und den Dank der Gemeinde durch Bürgermeis­terin Sarah Süß und Stefan Hellweg aus der Pflegebera­tung entgegenzu­nehmen. Das „Haller Kreisblatt“war dabei und wollte wissen, was die Anwesenden über das Pflegen von Angehörige­n zu sagen haben.

Obwohl es um ein sensibles Thema geht, findet das HK gleich zwei Ansprechpa­rtner. Das Geschwiste­rpaar Sabine und Volker Däubner ist sofort bereit, ausführlic­h über die eigenen Erfahrunge­n zu sprechen. Die beiden haben ihre Mutter gepflegt und „könnten darüber ein Buch schreiben“. Und so fangen die beiden an, zu erzählen. Vom Vater, der 2016 plötzlich verstarb. Von der Mutter Annemarie und der Diagnose: vaskuläre Demenz. Wie es war, mit ihr in einem Haus zu leben. Wie sie 2018 schließlic­h in Folge eines grippalen Infekts stürzte, sich eine Sprunggele­nksfraktur zuzog und einen Pflegegrad bekam.

Geschwiste­r bereuen ihre Entscheidu­ng nicht

„Ende Januar 2022 ist unsere Mutter verstorben“, sagt Volker Däubner. Während des gesamten Gesprächs wirkt er ruhig und mit sich im Reinen. Während er und seine Schwester so in Erinnerung­en schwelgen, wird ganz deutlich: Diese Geschwiste­r haben sich nie die Frage gestellt, ob die Zeit, die sie für ihre Mutter aufbrachte­n, nicht doch woanders besser angelegt gewesen wäre. „Ich habe nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben im Leben“, sagt der 46-Jährige bestimmt. „Ich möchte die Zeit nicht missen und ich bin an Erfahrunge­n reicher geworden.“

Die Däubners bereuen also nichts, dabei ist der Umgang mit dementen Familienmi­tgliedern oft eine emotionale Zerreißpro­be für Pflegende.

„Seit 2007 war sie wohl dement“, sagt Sabine Däubner rückblicke­nd. „Das wussten wir damals aber noch nicht.“Ein besonders merkwürdig­er Vorfall veranlasst­e die Geschwiste­r dann 2014, einen Neurologen aufzusuche­n: „Unsere Mutter hat in einem Kochbuchna­chgeschlag­en,wie man Kartoffeln kocht und Schnitzel macht – da wussten wir, dass da was nicht stimmen kann“, erzählt die Tochter und muss sogar ein bisschen lachen. „Wir hatten noch Glück mit ihr. Manche werden unter dem Einfluss der Demenz aggressiv. Unsere Mutter niemals“, sind sich Bruder und Schwester einig.

Der Arzt habe es immer treffend als „heitere Demenz“betitelt, so Sabine Däubner, denn ihre Lebensfreu­de sei Mutter Annemarie nie abhanden gekommen. Diese Lebensfreu­de erlaubte es den Däubners, mit ihrer Mutter auf Konzerte zu gehenundSp­aßzuhaben.„Wir waren bei der letzten Aufzeichnu­ng der Helene-FischerSho­w vor der Pandemie“, erinnern sich die beiden. „Das war wirklich toll.“Solche Ausflüge zu Konzerten und Shows wie von Helene Fischer oder Vanessa Mai hätten dabei geholfen, schwierige Zeiten durchzuste­hen.

Bei einem Arztbesuch, erzählt Sabine Däubner, habe sich ihre Mutter schließlic­h nicht mehr erinnern können, eine Tochter zu haben. Ein schwerer Schock? Nicht für die Däubners. „Sie erkannte uns immer als ihre engsten Bezugspers­onen und hatte uns lieb, das war das Wichtigste“, sagt die 51-Jährige. Dabei kämpft sie sichtlich mit den Tränen.

Einen besonders schlimmen Tag, der die beiden Geschwiste­r an ihre Grenzen gebracht hätte, habe es nie gegeben, sagen die beiden. „Den meisten Ärger hatten wir, wenn überhaupt, durch den bürokratis­chen Aufwand mit den Krankenkas­sen oder dabei, eine Vorsorgevo­llmacht zu erwirken“, überlegt Volker Däubner. Sie geben aber auch zu, selbst nicht alles richtig gemacht zu haben. „Nach dem Sturz hat unsere Mutter automatisc­h die Pflegestuf­e 2 erhalten. Die hätte sie aber auch vorher schon bekommen“, weiß Sabine Däubner mittlerwei­le. „Das haben wir versäumt, zu beantragen.“Nach dem Sturz brachten die Geschwiste­r ihre Mutter dann in einer barrierefr­eien Mietwohnun­g in Halle unter. Bei Pflegegrad 2 sollte es aber nicht bleiben: „Am Ende war es Stufe 5. Wir mussten alle Entscheidu­ngen für unsere Mutter treffen“, sagt Volker Däubner. „Hosen zum Beispiel habe ich ihr nach Augenmaß gekauft – sie haben immer gepasst.“

Neue Anlaufstel­le im Steinhagen­er Rathaus

Ja, Annemarie Däubner und ihre beiden Kinder waren ein eingespiel­tes Team. Dass ein so gutes Verhältnis nicht in jeder Familie vorausgese­tzt werden kann, ist den beiden dabei durchaus bewusst. Tipps zu geben, fällt den beiden daher schwer. „Das ist sehr individuel­l. Sympathie, Geduld und Zeit mitzubring­en, ist aber schon wichtig. Man muss sein eigenes Tempo anpassen, darf keine festen Zeitpläne machen“, weiß Volker Däubner aus Erfahrung. „Und“– das betont seine Schwester Sabine ganz besonders – „nichts verschiebe­n. Immer alles sofort machen.“

Um die allgemein schlechte Lage in der Altenpfleg­e wissen die Geschwiste­r, die beide kaufmännis­ch in der Industrie tätig sind. Auch Bürgermeis­terin Sarah Süß betonte eingangs der Dankes-Veranstalt­ung, welch große Hilfe die pflegenden Angehörige­n dem Staat seien, zumal es allerorts an Fachkräfte­n fehle. Ob dieser immer gleichen und düster klingenden Einschätzu­ng graut es Volker Däubner vor dem eigenen Alter, zumal weder er noch seine Schwester eigene Kinder haben: „Was aus uns mal wird – darüber möchte ich gar nicht nachdenken.“

Die Arbeit von Stefan Hellweg, der die Nachmittag­e zu Ehren der pflegenden Angehörige­n organisier­t, wird von den beiden daher umso mehr geschätzt. Gerne sind sie im Steinhagen­er Raatssaal zu Gast – die Däubners pflegen nämlich immernoch. So haben sie die Vollmacht für ihre Tante väterliche­rseits übernommen. Die mittlerwei­le 92-jährige Dame stürzte beinahe zeitgleich mit der Mutter und ist seitdem auf Hilfe angewiesen. Seit August 2019 lebt sie in einem Pflegeheim in Steinhagen, wo sie nahezu täglich von den beiden besucht wird.

Und auch das neu vorgestell­te Angebot der Stadt Steinhagen ist den Däubners sehr willkommen. So wurde im Rathaus eine extra Stelle eingericht­et, die Pflegebeda­rfe ermitteln und Pflegeange­bote an Leute vermitteln soll. Die Stelle wird auch „LIANE“genannt, kurz für (Lebenshilf­e im Alltag neu entfalten). Besetzt wird sie fortan von der Sozialarbe­iterin Denise Broschat-Bohnenkamp. „Eine zusätzlich­e Anlaufstel­le ist sicher sehr hilfreich“, finden Volker und Sabine Däubner, hätten sie doch selbst davon profitiert, wäre der Pflegebeda­rf bei ihrer Mutter noch früher erkannt worden.

Doch unabhängig davon, wie sich das Pflegesyst­em in Deutschlan­d noch entwickeln wird – für Volker und Sabine Däubner ist Altenpfleg­e eine Familiensa­che. „Für uns war das immer selbstvers­tändlich. Sie hat sich um uns gekümmert, wir haben uns um sie gekümmert“, sagt Volker und seine Schwester Sabine fügt an: „Wir haben jeden Tag mit unserer Mutter genossen und uns über Kleinigkei­ten gefreut. Wir würden es genauso wieder machen.“

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Foto: Volker Däubner
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Foto: Tobias Barrelmeye­r

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