Wertheraner verändert ganzes Leben fürs Hobby
Wenn Thomas Pietzka tanzt, erinnert das an historische Filmszenen. Und sogar an Netflix-Serien. Er hat sein Hobby dort schon mehrmals entdeckt – und er hat analysiert, warum es sich so gut zum Flirten eignet.
Es begann alles vor mehreren Jahren: „Meine beste Freundin hat mich damals auf einen Mittelaltermarkt geschleppt. Ich hatte wirklich keinen Bock darauf. Ich wollte einfach nur zu Hause sitzen und zocken. Am liebsten acht Stunden damit verbringen und meine Ruhe haben. Ich war damals noch ein ganz anderer Mensch“, erinnert sich Thomas Pietzka an jenen Tag, als er in seinem Leben einen völlig neuen Weg beschritt.
Ein kleiner Schritt aus seiner Komfortzone, der Besuch eines gewöhnlichen Mittelaltermarktes, und der junge Mann wurde überrascht: „Ich habe mich total verliebt – in die Atmosphäre, in die Menschen, in einfach alles, was dort so war.“
Es folgten weitere Besuche dieser Art – und irgendwann eine Einladung zu einem Workshop zum „Historischen Tanzen“. Erneut traf Thomas Pietzka auf besondere Menschen – genau das sei es, was ihn an dieser Form des Tanzens reize. „Und man kann sehr viel mit anderen interagieren.“Im Gegensatz zu Walzer und Co. bleibt man nicht zu zweit, sondern wechselt während eines Tanzes ständig den Platz und damit auch die Kontakte. „Das fand ich super“, schwärmt er.
Thomas Pietzka besuchte weitere Workshops, bis eine Tanzlehrerin den Hagener zu einem regelmäßigen Kurs in Bielefeld einlud. Er ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Für seine Leidenschaft pendelte er von da an wöchentlich vom Ruhrgebiet aus jeweils eineinhalb Stunden nach Bielefeld hin und zurück.
Zwei Jahre hielt er das durch. Doch dann fasste er einen Entschluss: Er kündigte seinen Job bei McDonald’s und wechselte den Wohnort. „Ich bin fürs Tanzen nach Bielefeld gezogen. Dabei hatte ich nicht einmal einen Job.“Anfangs wohnte er in einer Fünfer-WG. Mittlerweile hat er eine Wohnung in Werther. „Ich habe mir dann sofort einen Job gesucht, später eine Ausbildung angefangen und mir Stück für Stück ein neues Leben aufgebaut. Alles nur für das Hobby.“Den neuen Freundeskreis lieferte bereits der Tanzkurs.
Während der Pandemie unterstützte Thomas Pietzka die Kursleiterin Alica Grohs bei den Tanzstunden. Mittlerweile ist der 28-Jährige selbst als externer Übungsleiter an der Universität Bielefeld angestellt: „Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung die Teilnehmer mitmachen, dann geht mir das Herz auf.“Gemeinsam haben die beiden Kursleiter
das Angebot weiter ausgebaut, so dass jetzt Anfängerund Fortgeschrittene unterrichtet werden können. Zudem gründete die Gruppe vor Kurzem einen Verein, um zukünftig eigene Bälle organisieren zu können.
Die Tänzerinnen und Tänzer besuchen selbst auch Bälle und haben sich in der Szene einen Ruf erarbeitet. Das liegt unter anderem am vergleichsweise jungen Alter der Teilnehmer und an der Größe der Bielefelder Gruppe: Rund 20 Leute sind im Schnitt dabei. Bei diesen Veranstaltungen treffen etwa 50 bis 70 Personen aufeinander, berichtet Thomas Pietzka: „Diese Energie im Raum, wenn alle gleichzeitig tanzen, ist super.“
Warum IT-ler das historische Tanzen als Hobby lieben
Zum authentischen Look gehört natürlich auch das passende Outfit: „Viele geben sich große Mühe, Gewandungen zu finden, oder nähen sie sogar selbst.“Es ist nicht alles perfekt, aber historische Details fließen dabei mit ein.
Die Tänze stammen in der Regel aus dem Barock oder aus der Renaissance. Die Gruppe konzentriert sich vor allem auf den English Country Dance, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts getanzt wurde. Danach verschwand er fast in der Versenkung, bis der britische Musiker Cecil Sharp die Tänze wiederbelebte. Mit seinen Rekonstruktionen arbeiten die heutigen Tänzer. Thomas Pietzka hat einen dicken Ordner mit Tänzen gesammelt. Sie im Einzelnen zu erlernen, sei nicht so schwer, wie es scheint, denn es gebe eine Reihe an Grundfiguren, die immer wieder auftauchen, erläutert er. Wer diese beherrscht, findet sich schnell in neuen Tänzen zurecht.
Ein Umstand, der vor allem bei einer Berufsgruppe gut ankommt, beobachtet Thomas Pietzka, der selbst als ausgebildeter Software-Entwickler arbeitet: „Wir haben sehr viele IT-ler bei uns im Kurs. Die Strukturen der Tänze begünstigen das ein bisschen, glaube ich. Es ist ein sehr systematisches Vorgehen. Diese Tänze haben feste Figuren und Abläufe und wenn du diese kennst, kannst du dich sehr stark darauf konzentrieren, deine Schritte zu optimieren und das Tanzen mit den anderen zu verbessern. Ich glaube, das klare System zieht ITler an. Sie lieben das berufsbedingt“, sagt der Wertheraner und lacht.
Tanzgruppe mit Flirtpotenzial – auch für Introvertierte
Aber auch Introvertierte fühlen sich in der Gruppe wohl, schildert der 28-Jährige. „Sie blühen bei uns auf.“Ein Blickkontakt, ein leichter Flirt – das alles klappt beim Tanzen erstaunlich leicht, schildert er. Der Kontakt zu anderen ist automatisch gegeben. „Und durch das gemeinsame Tanzen wird begünstigt, dass neue Leute sofort integriert werden und schnell mithalten können.“
Wer jetzt an Szenen aus historischen Filmen denkt, bei denen Menschen in schicker Robe gemeinsam tanzen – und die Hauptdarsteller im Getümmel versuchen, einen Flirt zu wagen, der ist mit seiner Vorstellung auf der richtigen Spur: Thomas Pietzka selbst analysiert mit seinen Freunden gerne solche Szenen, um herauszufinden, wie die Tänze funktionieren und ob sie realistisch aufgebaut sind. Obwohl sie die englische Variante tanzen, hat sich seine Gruppe auch vom sportlichen Scottish Country Dance begeistern lassen, als entsprechende Tänze in der Netflix-Serie „The Crown“auftauchten. „Es ist schön, so etwas anzusehen. Vor allem, wenn die Filmemacher sich Mühe geben, es korrekt darzustellen.“
Wer das historische Tanzen ausprobieren möchte, hat als Student oder Gasthörer jeden Dienstag ab 18 Uhr die Gelegenheit dazu. Wer ohne UniZugang Lust dazu hat, kann sich via events@roundthecor ner.net von Thomas Pietzka Tipps holen oder unverbindlich bei einem Workshop reinschnuppern: Die Bielefelder Gruppe hat eine Kooperation mit dem WeserrenaissanceMuseum Schloß Brake in Lemgo. Am Sonntag, 19. Mai, können Teilnehmer zwischen 11 und 15 Uhr kostenlos mittanzen. Infos unter museumschloss-brake.de/events/inter nationaler-museumstag/.