Die Liebe am Ort des Todes
Lali und Gita begegnen sich am liebesfernsten Ort, dem Vernichtungslager Auschwitz und fassen den Entschluss, zu überleben – Regisseurin Tali Shalom Ezer hat den Holocaustroman „The Tattooist of Auschwitz“als Miniserie verfilmt
„Das habe ich mir für meine Eltern gewünscht: dass die Welt ihre Geschichte erfährt.“ Gary Sokolov, Sohn von Lali und Gita Sokolov
Ludwig „Lali“Eisenberg, später Lali Sokolov, war 25 Jahre alt, als er aus seinem slowakischen Städtchen Korompa nach Auschwitz kam. Wie alle, die von den Nazis dorthin deportiert wurden, war er nicht darauf vorbereitet, was dort geschah. Nach einer Typhuserkrankung, die Lali überlebte, wurde er ein Funktionshäftling, einer von den Tätowierern, die den im Vernichtungslager neu Ankommenden eine Nummer in den Unterarm stachen. Zeitlebens quälte den Überlebenden der Gedanke, damit einen „Pakt mit dem Teufel“eingegangen zu sein. Seine Geschichte erzählte er zwischen 2003 und seinem Todesjahr 2006 der neuseeländischen Journalistin Heather Morris, die aus Sokolovs Erinnerungen den Roman „Der Tätowierer von Auschwitz“machte, die Geschichte der Liebe zwischen Lali und Gisela „Gita“Fuhrmannova – an einem Ort des Todes. Das Buch, das erst 2018 erschien, zog die Kritik des Auschwitz Memorial Research Center auf sich, weil vermeintliche Fakten nicht stimmten. In der sechsteiligen Serie (zu sehen bei Wow und Sky Go) hat Gita nun die korrekte Identifikationsnummer 4652 auf dem Arm, der Arzt ist in der Serie nicht mehr als Josef Mengele identifizierbar – das Schreibteam aus Jacqueline Perske, Gabbie Asher und Evan Placey vermeidet die der Vorlage seitens des „Australian Journal of Jewish Studies“vorgehaltene „Vereinfachung, die das Verständnis der Wirklichkeit von Auschwitz verengt“. Auschwitz ist schon am Bahnhof von Korompa. Noch bevor der Zug, der ihn eigentlich zum Militär bringen sollte, anfährt, wird Lali von einem Schulfreund gewarnt, so schnell und so weit wie möglich wegzulaufen. Gerüchte von einem Lager machen die Runde – niemand weiß Genaues, aber alle wissen alles, und schon liegt einer von ihnen unter einem Gewehrkolben auf dem Bahnsteig. „Arbeit macht frei“steht über dem Portal des Stammlagers Auschwitz, und das ein paar Steinwürfe entfernte Birkenau ist – obzwar es nie wirklich fertig wurde – schon jetzt, 1942, ein überwältigendes Areal des Todes. Aus dem Schornstein eines Krematoriums steigt Rauch von empörender Schwärze. Wachpersonal schießt – aus einer Laune heraus – drei Häftlinge vom Latrinenbalken. Eine Frau fällt von der Ladefläche eines Lkw und erhält im Aufstehen einen Kopfschuss. Jeder ist hier niemand. Und in jeder Minute kann alles vorbei sein. Unter diesen Bedingungen lernt Lali Gita kennen – Liebe auf das erste Lächeln. Und dank des SS-Mannes Stefan Beretzki, der den Tätowierer stets begleitet, können sie sich immer wieder kurz sehen, sich in Gitas Baracke treffen, kommen heil aus Situationen, die bei anderen tödlich geendet hätten. Minuten werden der Hölle geraubt, mit Berührungen und Umarmungen gefüllt. Ein Kuss am Ort der Gaskammern, Kugeln und Galgen gehört zum Unfasslichsten, was man je sah. Jonah Hauer-King mit seiner scheuen Freundlichkeit und Anna Próchniak mit ihren leuchtenden Augen haben das Publikum sofort auf ihrer Seite. Der deutsche Schauspieler Jonas Nay („Deutschland 83“) gibt eine Gänsehautdarstellung als Lalis SS-Wachmann. Mit schräg gestelltem Kopf, lachend und lauernd, jovial und brutal, ist er der Inbegriff der NS-Schizophrenie, es Tag für Tag mit Menschen zu tun zu haben, deren Menschsein vom System bestritten wird. Am Ende sieht er sich als Lalis Freund, und ist erstaunt, als ihm der Handschlag zum Abschied verweigert wird. Den Rahmen der Serie bilden die Gespräche zwischen Morris und Lali in den Nullerjahren, die mit etwas weniger Inspiration umgesetzt wurden. Vor allem die talentierte Melanie Lynskey wird hier auf Eis gelegt – ist als Heather Morris kaum mehr als eine Stichwortgeberin mit seltsamer Blondglocke auf dem Kopf. Harvey Keitel („Pulp Fiction“, „Bad Lieutenant“), der am 13. Mai 85 Jahre alt geworden ist, bekommt mehr Raum. Er spielt die Trauer des Witwers, der das leere Kopfkissen neben sich ertastet. Anrührend, wenn ihn die Erinnerungen verstummen lassen und die Geister der Toten neben ihm auf dem Sofa Platz nehmen. Sein Lali macht dem Zuschauer klar, dass, auch wenn man Auschwitz entkommen ist, man doch zeitlebens sein Gefangener bleibt. Man hat es im Kopf, hat die Baracken und die Schreie mitgenommen. Noch eine Nazi-Serie, tut das not? So einzigartig in der Geschichte ist der Holocaust, so monströs in seinem Umfang, so fremd und widerwärtig in seinen Einzelheiten, dass man ihm immer wieder begegnen muss, um ihn neu begreifen zu können. In Zeiten von Neonazis und Populisten, in denen Politiker wieder Nazi-Deutsch sprechen und jüdische Mitbürger in Deutschland neuerlich Antisemitismus erfahren, ist „The Tattooist of Auschwitz“, diese vielleicht vorsichtigste aller Liebesgeschichten, wichtig. Vermutlich müssen noch viele Filme über den Menschenhass jener zwölf Jahre gedreht werden, bevor sich der Blick von Mensch auf Mensch zum Guten verändert. Auch die Sowjets erscheinen im Übrigen nicht als Befreier, eher wie die russischen Soldaten, deren unseliges Wirken man aus georgischen Städten, zuletzt vor allem aus den ukrainischen Städten Butscha und Mariupol kennt. Immer wieder zeigt die israelische Regisseurin Tali Shalom Ezer die Gesichter derer noch einmal in Close-ups, die gerade erschossen oder in den Gaskammern erstickt wurden. Porträts von Leuten, die von den Nazis aus ihrer Gegenwart gerissen, um ihre Zukunft gebracht wurden. Alles Wollen und alles Können, alles Hoffen und alles Planen endet vor Mördern, denen niemand in den Arm fällt, die kein Gericht bestraft.