Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Von Christian Huber Folge 30
„Wäre auch nicht so geil, wenn die uns durchsuchen und den Jolly in deinem EastPak finden würden, oder Krüger?“, sagte er. Da hatte er recht. „Und das geklaute Nokia in der Rucksackvordertasche macht jetzt auch nicht gerade den besten Eindruck.“
„Du hast das Nokia . . .?“
„Pssst!“
Die Beamten versuchten offenbar, etwas aus den Zirkusleuten herauszubekommen, und hatten dabei ähnlich viel Erfolg wie wir. Gerade ließ der Mechaniker mit dem Schnauzbart eine Rußwolke aus dem Generator in das Gesicht eines der Uniformierten steigen, der schimpfend einen Sprung nach hinten machte, wobei das Pistolenhalfter an seinem Gürtel schwang.
Schließlich stellten die Polizisten den Filialleiter oben an der Straße als Wachposten ab und schritten auf die Wohnwagen-Anlage zu. Direkt auf die Stelle zu, wo das rothaarige Mädchen ihre Messer warf. Mein Kopf raste.
In Gedanken spielte ich blitzschnell durch, was gleich passieren konnte:
Die Polizisten finden das Mädchen. Sie schreien sie an. Nimm gefälligst die Messer runter! Das Mädchen erkennt, dass ihm der Weg abgeschnitten ist. Die Polizisten haben sie, die Pistolen gezogen, im Visier.
Lass die Messer fallen, jetzt! Mach keinen Blödsinn, du Drecksgöre! Im Rücken der Polizisten wirft sich der Panther wütend gegen die Gitterstäbe. Einer der Polizisten schreckt zusammen. Ein Schuss löst sich. Die Klingen fallen zu Boden. Der Lauf der Pistole raucht. Fassungslos blickt das Mädchen an sich herab, presst die Hand auf ihren Bauch, auf die Stelle, an der die Kugel das Fleisch durchschlagen hat. Jemand kreischt. Der Polizist ist kreide-bleich. Der Nazi-Filialleiter lacht dreckig. Blut suppt durch ihre Kleidung, als das rothaarige Mädchen auf dem Festplatz zusammenbricht.
Das durfte nicht passieren. Ich wollte nicht, dass das passierte. Aber was sollte ich tun? Ich schaute zu Viktor. Ich musste eine Entscheidung treffen. Eine Millisekunde überlegte ich fieberhaft, wobei ich bemerkte, wie meine Fingerkuppen in meiner Hosentasche nervös über die Oberfläche meines Feuerzeugs glitten. „Pfeif!“, flüsterte ich endlich. Und als Viktor nicht reagierte, nochmals eindringlicher: „Vik. Pfeif! Pfeif die her! Jetzt!“
Und Viktor pfiff. Gellend. Sein Pfeifen zerschnitt die Luft. Achtung!, hieß der Pfiff. Das Mädchen blickte auf, erfasste die Situation, entdeckte uns und die Polizisten, bevor diese sie entdecken konnten, sprintete hinter einen Truck und rutschte nur ein paar Augenblicke später wie ein Baseballspieler zwischen Viktor und mich unter den Anhänger.
Sie atmete flach. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Ihre blauen Augen leuchteten mich zwischen unzähligen Sommersprossen an. Viktor wollte etwas sagen, doch das Mädchen legte sich den Zeigefinger auf die rosa Lippen. Stumm, herausfordernd wies sie auf meinen Rucksack. Ich wollte ihr den Mittelfinger zeigen, doch mein Arm war aus Blei. Hilflos verzog ich die Mundwinkel, was aussehen musste wie eine Gesichtslähmung nach der Zahnarztnarkose. Ich fürchtete, ein Spuckefaden würde mir über das Kinn tropfen. Was war nur los mit mir?
Das Zirkusmädchen blickte nach vorne. Wir machten keinen Mucks, als die beiden Polizisten über den Stellplatz stapften und ein paar Meter von uns entfernt stehen blieben. Das Mädchen griff nach dem Rucksack, den ich an einem der Gurte hielt. (Fortsetzung folgt)