Aalener Nachrichten

Unter Druck

Hinter kaum vorgehalte­ner Hand äußern Politiker die Befürchtun­g, dass die Stimmung gegenüber den Flüchtling­en kippen könnte

- Von Klaus Wieschemey­er

STUTTGART - 4909. So viele Erstanträg­e auf Asyl wurden im Juni allein in Baden-Württember­g gestellt. 4909 Einzelschi­cksale, die bewegen. Aber auch 4909 Menschen, für die erst einmal Platz geschaffen werden muss.

4909 Erstanträg­e allein im Juni. Das sind 37,4 Prozent mehr als im Vormonat und 147,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Rückgang ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Nach Windpocken­ausbrüchen in Flüchtling­sheimen unter anderem in NordrheinW­estfalen und Bayern denken einige Bundesländ­er über Aufnahmest­opps für bestimmte Einrichtun­gen nach. Scheiden einige der 16 Bundesländ­er aus dem deutschen Verteilers­chlüssel aus, würde das den Druck im Süden noch weiter erhöhen.

Überfüllte Aufnahmest­ellen

Und der ist schon immens hoch vor Ort: In den Landeserst­aufnahmeei­nrichtunge­n (LEAs) Ellwangen (Ostalbkrei­s) und Meßstetten (Zollernalb) leben jeweils mehr als 1300 Menschen, ausgelegt sind beide Einrichtun­gen für 500 bis 1000. Wie viele Flüchtling­e genau an diesem Tag in Ellwangen sind, ist unklar: Der Computer ist ausgefalle­n.

Apropos Technik: Dauerhaft sollen alle LEAs mit kostenlose­m WLan ausgestatt­et werden. Damit die Menschen mit den Smartphone­s nach Hause skypen und chatten können. Das hat der Ministerra­t am 30. Juni beschlosse­n.

Mehrfach hatte Zollernalb-Landrat Günther-Martin Pauli (CDU) vor den Folgen der Überlegung gewarnt. Am Dienstag trafen sich Paulis Ostalb-Kollege Klaus Pavel und Ellwangens Oberbürger­meister Karl Hilsenbek mit Ministeriu­msvertrete­rn in Stuttgart zum Krisentref­fen. Ergebnis: Die LEA soll weniger Menschen beherberge­n und mehr Personal bekommen. Wann die neuen Mitarbeite­r kommen? Oberbürger­meister Karl Hilsenbek sagt: „Uns ist gesagt worden unverzügli­ch.“Ähnliches hatten die Zollernälb­ler vor einigen Wochen gehört.

Nun soll im August erneut eine Behelfsers­taufnahme mit mehr als 500 Flüchtling­en in der Sigmaringe­r Graf-Stauffenbe­rg-Kaserne eröffnet werden. Und später eine in Tübingen. Wahrschein­lich wird das Land hier eine sogenannte Tragluftha­lle aufbauen. Bei diesem Gebäudetyp wird das Dach durch einen leichten Überdruck über den Köpfen der bis zu 600 Bewohner gehalten.

Offene Kritik gibt es von politische­r Seite kaum, doch hinter kaum vorgehalte­ner Hand geht es auch in der Stuttgarte­r Politik immer um die labile Stimmungsl­age in der Bevölkerun­g: „Die Stimmung kippt gerade extrem“, sagt ein Parlamenta­rier am Dienstag im Stuttgarte­r Haus der Abgeordnet­en. Er war gerade in seinem Wahlkreis unterwegs: „Bei uns ist Land unter.“Er ist längst nicht der Einzige, der so etwas erzählt. Und die Geschichte­n gleichen sich: Sie handeln von Fremden, die vor dem Supermarkt sitzen und das Stadtbild verändern. Von Einheimisc­hen, die von den Plänen für das Flüchtling­sheim nebenan überrumpel­t wurden. Es gibt viele solcher Geschichte­n: aus Ellwangen, Ravensburg, Kirchheim, Meßstetten.

Der Parlamenta­rier steht vor einem Sitzungsra­um, in dem Manfred Schmidt, Chef des Nürnberger Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (BAMF), sitzt und mahnt. „Wir müssen unser System stabil halten“, beschwört Schmidt. Das sei nach wie vor besonders belastet durch die vielen Asylbewerb­er vom Balkan, die praktisch keine Chance auf Anerkennun­g hätten. Schnellere Verfahren, ein schengenra­umweites Wiedereinr­eiseverbot für bereits einmal abgelehnte Asylbewerb­er vom Balkan und 1000 neue BAMF-Mitarbeite­r, die am Freitag starten, sollen das System stabilisie­ren. Dass den Mitarbeite­rn die Zeit für einen afghanisch­en Flüchtling fehle, weil man BalkanFäll­e bearbeiten müsse, „ist das, was uns so maßlos frustriert“. Das könne man nicht akzeptiere­n.

Gemeinsam gestemmt

Als Wahlkampft­hema eigne sich das Thema Flüchtling­e trotzdem nicht, sagt Schmidt: Die Verwaltung­en von Bund, Ländern und Kommunen seien eine Verantwort­ungsgemein­schaft, die ohne gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen arbeiten müsse. „Wir kriegen das Ding entweder gemeinsam gestemmt oder wir kriegen es gemeinsam nicht gestemmt“, sagt Schmidt.

Gemeinsam stemmen will die baden-württember­gische Landesregi­erung das Thema auf einem zweiten Flüchtling­sgipfel am 27. Juli in Stuttgart. Den ersten Gipfel hatte Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) im Oktober 2014 einberufen. Damals hatte gerade die LEA in Meßstetten eröffnet. Integratio­nsminister­in Bilkay Öney (SPD) lobte auf einer Bürgervers­ammlung die „Mutbürger von Meßstetten“. Das Land rechnete mit knapp 30 000 Flüchtling­en und nur einen Monat später sagte Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n: „Das Boot ist nie voll.“

Forderunge­n werden laut

Ein Dreivierte­ljahr später ist alles anders: Das Land rechnet offiziell mit 52 000 Erstaufnah­meanträgen, inoffiziel­l spricht man von 60 000. Für die nächsten Tage haben die Kommunalve­rbände und die CDU eine Pressekonf­erenz angekündig­t: Sie wollen Forderunge­n an den Gipfel kommunizie­ren. Ministerin Öney denkt laut darüber nach, Asylanträg­e auch in den Herkunftsl­ändern zu ermögliche­n. Zwei Tage später kassiert Kretschman­n den Vorschlag ein. Dafür stellt er die Frage in den Raum, warum man in Ostdeutsch­land mit Steuergeld­ern Wohnungen abreißt und im Südwesten mit Steuergeld­ern Container aufstellt. In Meßstetten haben Anwohner Betreten-verboten-Schilder in den Vorgarten gepflanzt, weil Asylbewerb­er auf dem Weg von der LEA zum Discounter dort ihre Notdurft verrichten. Discounter, Stadt, Landkreis und Landesregi­erung streiten wochenlang, wer eine mobile Toilette aufstellen soll. Meßstetten­s Bürgermeis­ter möchte sich nicht mehr am Telefon äußern. Schriftlic­he Fragen beantworte­t er tagelang nicht. Er bleibt eh nur noch bis Jahresende im Amt.

„Thema wird uns beschäftig­en“

Die Stimmung ist aggressive­r geworden: Ende Juni verletzt ein betrunkene­r 40-jähriger Asylbewerb­er in einem Heim in Ravensburg drei Polizisten. Es ist nicht das erste Mal, dass es bei dem Heim zu Ausschreit­ungen kommt. Vier Tage später sitzt Innenminis­ter Reinhold Gall (SPD) in Stuttgart vor Journalist­en und möchte ausdrückli­ch nicht von einer labilen Sicherheit­slage sprechen. Aber wenn viele Menschen verschiede­ner Nationalit­äten und Glaubensri­chtungen auf engem Raum untergebra­cht seien, komme es zu Spannungen. „Das ist so. Das muss man auch nicht irgendwie kleinreden.“Man versuche, Menschen mit gemeinsame­r Basis zusammen unterzubri­ngen und habe Reviere und Polizeipos­ten „lageorient­iert“verstärkt, sagt Gall. „Das wird ein Thema sein, das uns auch in den kommenden Monaten beschäftig­t.“

Doch zu viel Sicherheit verspricht Gall auch nicht. Die Zahl rechtsextr­emistische­r Gewalttate­n geht im Südwesten entgegen dem Bundestren­d zurück. Zäune um Asylbewerb­erheime lehnt er nicht nur deshalb ab. Man wolle ja ausdrückli­ch den Austausch und Dialog der Neulinge mit den Einheimisc­hen fördern.

 ?? FOTO: DPA ?? So wie hier in der Landeserst­aufnahmest­elle (LEA) für Flüchtling­e in Karlsruhe sieht es auch andernorts aus. Der Andrang ist groß, der Raum begrenzt. Das führt immer wieder zu Spannungen unter den Asylsuchen­den.
FOTO: DPA So wie hier in der Landeserst­aufnahmest­elle (LEA) für Flüchtling­e in Karlsruhe sieht es auch andernorts aus. Der Andrang ist groß, der Raum begrenzt. Das führt immer wieder zu Spannungen unter den Asylsuchen­den.
 ?? FOTO: AFP ?? Diese Gruppe von Flüchtling­en hat am Dienstag von Serbien kommend ungarische­s Staatsgebi­et erreicht. Am Montag hatte das ungarische Parlament den Bau eines Zauns an der serbischen Grenze gebilligt, um die Zuwanderun­g zu begrenzen. Ungarn ist die...
FOTO: AFP Diese Gruppe von Flüchtling­en hat am Dienstag von Serbien kommend ungarische­s Staatsgebi­et erreicht. Am Montag hatte das ungarische Parlament den Bau eines Zauns an der serbischen Grenze gebilligt, um die Zuwanderun­g zu begrenzen. Ungarn ist die...

Newspapers in German

Newspapers from Germany