In der Hölle des Nordens auf Wolke 7
Tony Martin zwingt das Glück und fährt im vierten Versuch endlich ins Gelbe Trikot
CAMBRAI (dpa/SID) - Tony Martin ballte vor lauter Freude immer wieder die Faust und konnte sein Glück kaum fassen. In der „Hölle des Nordens“ist für den ewigen Pechvogel der sehnlichste Traum bei der Tour de France endlich in Erfüllung gegangen. Der dreimalige Zeitfahrweltmeister eroberte mit einem famosen Solosieg auf dem berüchtigten Kopfsteinpflaster Nordfrankreichs im vierten Anlauf doch noch das erste Gelbe Trikot seiner Karriere. Martin fuhr nach einer Attacke 3,3 Kilometer vor dem Ziel zum Sieg und löste damit Christopher Froome an der Spitze der Gesamtwertung ab.
Für John Degenkolb, der im Frühjahr mit seinem Sieg bei Paris – Roubaix auf gleichem Terrain RadsportGeschichte geschrieben hatte, blieb nach 223,5 Kilometern von Seraing nach Cambrai nur Platz zwei im Sprint vor dem Slowaken Peter Sagan. „Ich bin sehr enttäuscht, auch wenn es schön für Tony ist“, sagte der 26-Jährige mit gedrückter Stimme und schaute nach seinem vierten zweiten Platz auf einer Tour-Etappe wie paralysiert ins Nichts. „Wir sind mit unseren Möglichkeiten hinter Tony her, aber haben vielleicht einen Moment zu lang gezögert.“
Des einen Leid, des andern Freud: Hinter der Ziellinie ließ sich der 30jährige Martin überglücklich zu Boden fallen. Seine Teamkollegen waren als erste Gratulanten zur Stelle. Sogar der in Zivil erschienene ExWeltmeister Tom Boonen eilte zur kleinen Feier des Etixx-Quick-StepTeams herbei. „Das ganze Pech der letzten Tage hat sich heute in Glück gewandelt“, sagte Martin in der ARD, er sei „alles oder nichts“gefahren.
Es wurde „alles“; es war ein Sieg des Willens von Martin. Nicht einmal von einem Reifenschaden 19 Kilometer vor dem Ziel ließ er sich aufhalten. „Nach dem Plattfuß hatte ich den Tag eigentlich schon abgehakt“, sagte Martin. Doch dann startete er im Rad seines Teamkollegen Matteo Trentin eine famose Aufholjagd.
Auf dem Weg nach Nordfrankreich ging es auf den letzten sechs von sieben Kopfsteinpflaster-Sektoren mächtig zur Sache. Das AstanaTeam um Vorjahressieger Vincenzo Nibali schlug ein Wahnsinnstempo an, doch die Rivalen des Italieners im Kampf um den Gesamtsieg waren al- lesamt auf der Hut. Sogar der kolumbianische Kletterspezialist Nairo Quintana, dem ein schwerer Tag prophezeit worden war, ließ sich nicht abschütteln. So hatte sich am Ende der 13,3 Kilometer langen Kopfsteinpflaster-Passagen eine gut 25 Mann starke Spitzengruppe gebildet, aus der Martin schließlich attackierte.
Und diesmal stoppte ihn keiner. Am ersten Tag hatte er das Gelbe Trikot um fünf Sekunden verfehlt. In Zeeland missglückte sein Coup nur, weil Fabian Cancellara Zeitgutschriften gesammelt hatte. Und am Montag trennte Martin an der „Mur von Huy“nicht einmal eine Sekunde von der Spitze. Froome war 0,93 Sekunden hinter Tagessieger Joaquin Rodriguez geblieben, wodurch er gerade noch mit der gleichen Zeit gestoppt worden war.
Sieben Fahrer konnten am Dienstag nicht mehr antreten. Prominentestes Opfer des Massensturzes am Vortag war Fabian Cancellara (siehe nebenstehende Meldung). Außerdem hatte es den Niederländer Tom Dumoulin (ausgekugelte Schulter), Mailand-San-Remo-Sieger Simon Gerrans (Handgelenkbruch), Daryl Impey (Schlüsselbeinbruch), William Bonnet (Bruch des zweiten Halswirbels) und Dimitri Kosontschuk (Brüche an Schlüsselbein und Schulterblatt) erwischt. Der Amberger Andreas Schillinger vom deutschen Team Bora-Argon musste das Rennen wegen eines Infekts aufgeben.
Heute schlägt aller Voraussicht nach die Stunde der Sprinter. Bei der 189,5 Kilometer langen 5. Etappe von Arras nach Amiens ist ein klassischer Massenspurt das wahrscheinlichste Szenario.