Erdogan leitet die Kehrtwende ein
Türkei geht gegen Islamischen Staat vor und bekämpft gleichzeitig die Kurden
ISTANBUL - Die Türkei hat erstmals Stellungen des Islamischen Staates (IS) in Syrien bombardiert und damit ihre jahrelange Zurückhaltung gegenüber der Terrormiliz beendet. Alle angegriffenen IS-Ziele seien zerstört worden, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Freitag. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben dabei neun IS-Kämpfer, zwölf weitere seien verletzt worden. Zugleich drohte Davutoglu mit weiteren Schlägen: „Die Türkei wird gegen jede kleinste bedrohliche Bewegung aufs Härteste reagieren.“Zudem gab Ankara dem Drängen Washingtons nach und will die Nutzung des Nato-Luftwaffenstützpunktes Incirlik in der Südtürkei für USKampfeinsätze gegen den IS erlauben.
Auslöser war Grenzgefecht
Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte am Freitag die Kehrtwende, über die zunächst aus Washington berichtet worden war. Auslöser der Entwicklung war der nach türkischen Angaben vom IS verübte Bombenanschlag im südtürkischen Suruc am Montag mit 32 Toten. Am Donnerstag starben zudem bei einem Grenzgefecht mit dem IS ein türkischer Soldat und mindestens ein Extremist. „Wer uns Schaden zufügt, muss den zehnfachen Preis zahlen“, warnte Davutoglu.
Nach Angaben der Regierung griffen am frühen Freitagmorgen drei Kampfjets Ziele im Norden des Nachbarlandes an. „Die türkische Republik ist entschlossen, alle nötigen Maßnahmen zur nationalen Sicherheit zu ergreifen“, hieß es in einer Mitteilung.
Die Türkei hat den sprichwörtlichen Platz als Zaunkönig im Kampf gegen die Extremisten des Islamischen Staat (IS) aufgegeben. Ministerpräsident Davutoglu kündigte am Freitag auch an, dass die Luftschläge erst der Anfang seien. Der Kampf sei nicht auf einen Tag oder eine Region beschränkt, sagte Davutoglu. Dabei sei die Türkei auch bereit, Truppen nach Syrien zu schicken, sollte dies nötig sein.
In den frühen Morgenstunden hatte die Polizei in landesweiten Großrazzien fast 300 mutmaßliche Mitglieder des IS, Unterstützer der PKK und der linksradikalen DHKP-C festgenommen. Der IS, die PKK und die DHKP-C seien allesamt Terrororganisationen, sagte Erdogan in Istanbul. Die PKK forderte er einmal mehr auf, die Waffen niederzulegen. Andernfalls bekämen die Rebellen und ihre Unterstützer die ganze Härte des Staats zu spüren. Der Friedensprozess sei vorbei, schrieben kurdische Aktivisten auf Twitter. Andere spra- chen von einer Kriegserklärung und einem «weiteren Verrat» des Westens an den Kurden. Die Amerikaner haben die mit der PKK verbündeten kurdischen Kämpfer in Syrien bisher unterstützt. Sie haben sogar ihre Schlagkraft gegen den IS gepriesen. Rückt Washington davon jetzt ab? Ist Präsident Barack Obama gar auf die Forderung der Türkei nach Einrichtung einer Schutzzone eingegangen, die einen Puffer sowohl gegen den IS wie die syrischen Kurden bilden würde?
Washington sei auf die Bedenken der Türkei eingegangen, sagte Davutoglu, ohne Einzelheiten zu nennen. Laut einem Bericht der Tageszeitung „Hürriyet“haben die Amerikaner jedoch Kompromisse gemacht und sind auf die Forderung der Türkei nach Einrichtung einer «Sicherheitszone» im Norden von Syrien eingegangen. Laut dem Blatt soll sich diese über einen Korridor von rund 90 Kilometern Länge und 40-50 Kilometer Tiefe erstrecken, in dem eine „partielle Flugverbotszone“eingerichtet werde. Eine solche Sicherheitszone wäre freilich nicht nur ein Puffer gegen den IS, sondern auch gegen die Kurden. Sie würde den Zusammenschluss mit den von ihnen kontrollierten Gebieten zwischen Kobane und dem Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak verhindern.
Die beiden Regierungen hüllen sich über die Details der Übereinkunft bisher in Schweigen. Das Weiße Haus bestätigte nur, dass beide Seiten sich darauf verständigt haben, die Zusammenarbeit zu vertiefen. Erdogan bestätigte die Öffnung der Luftwaffenbasis Incirlik unter „bestimmten Bedingungen“.
Statt bisher vom Golf könnten die Amerikaner und ihre Verbündeten von Incirlik aus innerhalb weniger Minuten Angriffe auf die IS-Hauptstadt Rakka fliegen. Erdogan will offenbar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: den IS und die PKK. Die PKK ist erneut zu Angriffen in der Türkei übergangen. Dass die Doppelstrategie aufgeht, ist unwahrscheinlich. Vielmehr droht die Türkei noch tiefer in den Sog des Konflikts in Syrien zu geraten.