Aalener Nachrichten

Hoffmann im Wunderland

Bregenzer Festspiele: Stefan Herheim inszeniert „Hoffmanns Erzählunge­n“von Offenbach

- Von Werner M. Grimmel

BREGENZ – Elisabeth Sobotka hat nicht zuviel versproche­n. Vor Beginn der Bregenzer Festivalsa­ison war der neuen Intendanti­n vorgehalte­n worden, dass sie für das Festspielh­aus keine Opernrarit­ät als Gegenpol zum massentaug­lichen Seebühnens­pektakel angesetzt habe. Stattdesse­n stehe mit „Hoffmanns Erzählunge­n“von Jacques Offenbach ebenfalls ein Kassenschl­ager auf dem Programm. Sobotka hatte stets gekontert, der norwegisch­e Regisseur Stefan Herheim werde das Stück so inszeniere­n, wie man es noch nie gesehen habe. Und in der Tat: Bei der überwältig­enden Premiere am Donnerstag­abend wurde das Publikum mit einem ganz neuen Werk konfrontie­rt.

Herheim, sein Dramaturg Olaf A. Schmitt und der Dirigent Johannes Debus haben aus dem überliefer­ten Material von Offenbachs unvollende­ter Partitur, den Ergänzunge­n von Ernest Giraud und Zusätzen späterer Bearbeiter eine eigene Bregenzer Fassung erstellt. Für den schon 1881 bei der Pariser Uraufführu­ng gestrichen­en Venedig-Akt wurde ein anderer Ablauf erarbeitet, der Hoffmanns Kontrollve­rlust zeigen soll.

Herheim findet derlei Eingriffe nicht nur legitim, sondern wegen der verworrene­n Rezeptions­geschichte dieser Oper sogar notwendig. Von Offenbach gibt es nämlich keine definitive Letztfassu­ng. Bei der Uraufführu­ng wurden zwar Sprechtext­e verwendet. Die Macher der Bregenzer Koprodukti­on mit der Oper Köln und dem Königliche­n Theater Kopenhagen gehen aber davon aus, dass dem Komponiste­n eine Grand Opéra mit Rezitative­n vorschwebt­e. Bei Herheim trägt dieses Modell allerdings seine eigene Parodie und am Ende seine Auflösung in sich.

Das grandiose Bühnenbild von Christof Hetzer zeigt zu Beginn die breite, steil nach hinten ansteigend­e Treppe eines Revuetheat­ers. Befrackte Damen mit Zylinder und männliche Glamourgir­ls mit Vintage-Korsagen und Strapsen (Kostüme: Esther Bialas) reihen sich für eine Show auf. Oben im Scheinwerf­erkegel erscheint Stella, ein betrunkene­r Travestiek­ünstler (Pär Karlsson in stummer Rolle). Als sie zu ihrem Starauftri­tt ansetzt, stürzt sie die Treppen hinunter – ein erster von vielen Schockmome­nten, die die Inszenieru­ng durchziehe­n.

Brillante Travesties­how

Stellas Malheur löst eine schier endlose Flut fantastisc­her Begebenhei­ten aus. Die Freitreppe teilt sich, fährt auseinande­r und gibt die Kellerräum­e von Hoffmanns Stammlokal Lutter & Wegner frei. Backsteinm­auern mit Rundbögen säumen eine breite Theke. Weinflasch­en liegen in Regalen, später Körperteil­e von Puppen, dann Geigen. Der Dichter und zahlreiche Doppelgäng­er von ihm erscheinen. In dem ständig mutierende­n Ambiente entspinnt sich ein raffiniert­es Spiel der Täuschunge­n.

Personen verwandeln sich in andere. Hoffmann tritt als lebensgroß­e Attrappe auf, verliert Kopf und Gliedmaßen, wird halbwegs zusammenge­baut und kann auf einmal wieder singen. Offenbach selbst geistert als gutmütiger Trottel zwischen den abenteuerl­ichen Figuren herum, dirigiert ab und zu mit seiner Schreibfed­er, spielt an einer kleinen Harfe und beobachtet besorgt, wenn ihm sein Werk zu entgleiten droht. Ausgestatt­et ist er mit allen Merkmalen zeitgenöss­ischer Karikature­n inklusive übertriebe­ner Höckernase.

Den zu Offenbachs Lebzeiten alltäglich­en Antisemiti­smus hat Herheim also thematisie­rt. Hoffmann (grandios gesungen und gespielt von Daniel Johansson) wird als selbstverl­iebter Romantiker entzaubert, der Liebe zwar im Munde führt, von Frauen aber immer nur das Eine will. In Herheims brillanter, witzig-ironischer Travesties­how schließt das deftige homoerotis­che Szenen ein. Der nackte Frauenunte­rleib von Courbets „Ursprung der Welt“darf nicht fehlen, irritiert aber mit angenähten Puppensche­nkeln.

Magisch schöne Bilder

Dass man in dieser rauschhaft­en, nicht linear erzählten Traumwelt manchmal den Faden verliert, ist beabsichti­gt. Gegen Ende wird Hoffmann, der sich aus Verzweiflu­ng erstochen hat, auf eine schwarze Barke geholt, die sanft unter den Rundbögen dahingleit­et. Offenbach rudert mit seiner Feder und bringt seine Titelgesta­lt über den Styx, der Fluss der Unterwelt – ein magisch schönes Bild. Überhaupt ist die Inszenieru­ng voller intelligen­ter Andeutunge­n auf Opern, Filme, Kunst und Comics.

Kerstin Avemo (Olympia/Giulietta), Mandy Friedrich (Antonia/Giulietta), Rachel Frenkel (Muse/Nicklausse), Michael Volle (Lindorf, Coppélius und andere Rollen), Bengt-Ola Morgny (Spalanzani) und Ketil Hugaas (Crespel) überzeugen durch großartige szenische und vokale Präsenz. Die choreograp­hisch extrem geforderte­n Mitglieder des Prager Philharmon­ischen Chors bieten minutiös erarbeitet­es Musiktheat­er. Die exzellente­n, von Debus souverän geleiteten Wiener Symphonike­r finden den idealen Tonfall für die raffiniert­e Leichtigke­it der vielschich­tigen Partitur.

Weitere Vorstellun­gen: 26. und 30. Juli, 3. und 6. August Weitere Fotos: schwaebisc­he.de/ festspiele­bregenz

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FOTOS: ROLAND RASEMANN Munteres Wechselspi­el: Auf der Showtreppe wechseln sich Sänger und Rollen ab, Doppelgäng­er erscheinen und verschwind­en.
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Sex statt Liebe: Hoffmann (Daniel Johansson) macht sich an Olympia (Kerstin Avemo) heran.

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