Das Ziel ist das gleiche: Gemeinsam etwas entwickeln
Der frühere Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug spricht vor Unternehmern in Bad Waldsee
BAD WALDSEE - Zweieinhalb Jahre Entschleunigung – spürt man die? Entschleunigen – geht das überhaupt bei einem wie ihm? Norbert Haug, 62, vom 1. Oktober 1990 bis 31. Dezember 2012 Leiter Motorsport von Mercedes-Benz, lächelt. Kurz. Entschleunigung, sagt er dann, „will gelernt sein – vor allem dann, wenn man selbst ein Beschleuniger ist“.
Norbert Haug ist wohl kein schlechter Lerner. Entzugserscheinungen – „klar, gibt es die“– kompensieren „neue Herausforderungen“, die ihn aus- und die erfüllen. Da ist die Expertenanalyse für die ARD an den DTM-Wochenenden. Da ist die Tätigkeit für die Paravan Technology Group aus Pfronstetten-Aichelau, die Mobilitätslösungen für behinderte Menschen anbietet. Seit Herbst 2013 koordiniert Norbert Haug deren strategische Weiterentwicklung. „Und ich arbeite mit einer ganzen Reihe mittelständischer Firmen.“Auch ins Haug’sche Portfolio gehören Vorträge und Diskussionsrunden.
An diesem lauen Juliabend im Bad Waldseer Ortsteil Gaisbeuren: Die Heinzl-Firmengruppe hat zu ihrem 21. Unternehmerforum geladen; der Talk von Walter Döring, Wirtschaftsminister a. D., Vorsitzender des Heinzl-Beirats, mit Norbert Haug soll Impuls sein für den Austausch von Gedanken, Ideen, Kontakten. 60 Mittelständler im Auditorium, der Politiker bestens präpariert. Sein Gegenüber? Leidenschaft und Authentizität haben die Beobachter der PS-Branche an Norbert Haug geschätzt. Leidenschaft und Authentizität haben die mittlerweile 30 Monate „ohne“überdauert. Launiger Humor gesellt sich dazu, etwa, wenn er die Frage nach seinen – sehr frühen – eigenen Versuchen bei 24-Stunden-Rennen und Rallyes so beantwortet: „Meine Rennfahrerkarriere? Die war auf jeden Fall nicht so, dass ich mich als Rennfahrer eingestellt hätte.“
Dass Norbert Haug diverse schnelle Vehikel brillant durch jede Kurve driften lassen kann, sei nur am Rande erwähnt. Viel wichtiger für den Motorsport-Macher und seinen Arbeitgeber war gewiss, dass er die richtigen Rennfahrer einstellte: David Coulthard, Lewis Hamilton, Nico Rosberg, Michael Schumacher ... Und: Dass er Mut zur Vision hatte, schlüssige Konzepte offenbar. Der Formel-1-Wiedereinstieg von Mercedes via Sauber, McLaren, Brawn hin zum eigenen Werksteam seit der Saison 2010 trägt Norbert Haugs Handschrift. Die Erfolgsquote tut es sicher auch: 87 Formel-1-Rennen wurden unter seiner Verantwortung gewonnen. Von 328. Dazu die Siege in DTM, IndyCar, GT, Gruppe C und Formel 3. Irgendjemand hat gerechnet: Macht 439 erste Plätze bei 968 Starts. 45,4 Prozent (Voll-)Trefferquote also. Was da „bezüglich Führung an Unternehmer“weitergegeben werden kann, will Walter Döring wissen. „Sie können nur so stark sein wie Ihre Mannschaft“, antwortet Norbert Haug. Klingt banal. „Aber man muss das auch leben. Man muss auch wirklich Leute unterstützen, fördern, delegieren.“Ebenso allerdings nachhalten, ebenso kontrollieren. Will heißen: „Gemeinsam etwas entwickeln.“Klingt schon nicht mehr banal.
Und bleibt nicht die einzige Analogie zwischen der „Rennerei“und unternehmerischem Handeln, die Norbert Haug parat hat: Vom „Wettbewerb unter Kollegen“spricht er (nicht ohne das Attribut „fair“– „damit bin ich immer gut gefahren“), von der „Förderung junger Leute“hier wie dort. Der Idealfall – „vielleicht auch wieder ein schwäbischer Idealfall: Nimm ihn früh und verpflicht’ ihn lange!“Lewis Hamilton fällt einem ein, der schon mit 13 in McLarens „Driver development program“eingebunden war. Der jetzt, gemeinsam mit Nico Rosberg, im F1 W06 Hybrid die Szene beherrscht. Norbert Haug sieht das „mit großer Freude“, lobt die Beteiligten, nennt die Mercedes-Dominanz a) „wohlverdient“und wähnt sie b) „lang“. Stand heute; die Formel 1 ist ein schnell(lebig)es Geschäft.
Und, so erfuhren die Zuhörer in „Nikis Lounge“, im Vergleich zur DTM, dem Deutschen Tourenwagen Masters, war sie „mehr so das Galadinner, wo’s vielleicht ein bisschen steifer hie und da ist“. DTM hingegen, das hieß „ein bisschen familiärer“, das hieß eher „Landgasthof, wo man die Ärmel hochkrempelt und gemütlich beisammen ist“. Die Vergangenheit gebraucht Norbert Haug bewusst bei diesem Bild. „Reinsten Werkssport“böten Audi, BMW und Mercedes heute. „Und von denen will keiner verlieren!“Feststellung eins. Feststellung zwo: „Würde es diesen unglaublichen Wettbewerb zwischen den drei Marken nicht geben, dann wäre keine von den dreien so weit.“
Themenwechsel: Paravan. Behindertengerechte Autos, Drive-by-wireTechnologie, mikroprozessorgesteuerte Fahrhilfen, beeindruckend sind die Entwicklungen, die Norbert Haug auf der Schwäbischen Alb kennengelernt hat. Beeindruckend auch die Menschen. Janis McDavid zum Beispiel, ein 23-Jähriger, ohne Arme und Beine geboren, voller Lebenslust und -mut. Dass er Auto fahren kann, dadurch Freiheiten hat, die für andere nicht der Rede wert sind: Norbert Haug erzählt das so, dass man seine Sympathie spürt, die Empathie auch. „Es gehört sich“, hat er keine Dreiviertelstunde zuvor erst in den Journalisten-Block diktiert, „Menschen zu unterstützen, mit denen es das Schicksal nicht so gut gemeint hat, was ihre körperlichen Fähigkeiten betrifft.“Der Satz bleibt haften an diesem Juliabend. Nicht weniger als die Zahl 439.