Aalener Nachrichten

Verdammt zu Platz eins

Vor 75 Jahren veröffentl­ichte das Magazin „Billboard“die ersten Charts

- Von Alexander Brüggemann

BONN ( KNA) - Der moderne Mensch liebt Ranglisten, Rankings, Hitlisten. Ob Tennis, Urlaubszie­le oder RTLShows: Alles muss gelistet sein. Erst vor 75 Jahren hat die Menschheit so richtig damit angefangen: mit den „Billboard Charts“.

Nick Hornby führte die „All Time Top Five“zu literarisc­hen Ehren. Der musikverna­rrte Brite und Ich-Erzähler aus „High Fidelity“(1995) hangelt sich mit persönlich­en Charts durch seinen Roman. Im Leben gehe es doch eigentlich nur um eins: „die ewigen Top Five meiner unvergessl­ichen Trennungen in chronologi­scher Reihenfolg­e: 1. Alison Ashworth, 2. Penny Hardwick; 3. Jackie Allen; 4. Charlie Nicholson; 5. Sarah Kendrew.“Unsere westliche Gesellscha­ft ist zu ewigen Ranglisten und zum Vornesein verurteilt und zwar seit dem 27. Juli 1940.

Die meistverka­uften Songs

Das „Billboard“, heute das wichtigste Musikfachb­latt Amerikas, war zunächst nicht mehr als ein Karnevalsm­agazin. 1894 gegründet, brauchte es über ein halbes Jahrhunder­t, bis es in den 1950er-Jahren seine eigentlich­e Bestimmung fand. Bis heute ermittelt und veröffentl­icht das „Billboard“die in den USA meistverka­uften Songs: die „Charts“, die Top Ten, Top Hundred, Top irgendwas. Es geht um Verkaufs- und Abspielzah­len einzelner Titel aus Läden und Sendern. Zugrunde liegt die Häufigkeit, mit der Platten in Musikmasch­inen und Plattenaut­omaten der USA gespielt wurden. Die allererste­n Top Ten waren deklariert als eine „landesweit­e Aufstellun­g der bestverkau­ften Schallplat­tenaufnahm­en“. Aus diesem vielleicht sogar unschuldig­en Ansinnen wurde bald das Wertgefühl der gesamten westlichen Welt.

Das Denken in „Hop oder top“, in Aufsteiger und Absteiger, ist in unseren Gesellscha­ften derart verinnerli­cht, dass das olympische Motto des „Dabeisein ist alles“heute selbst in Grundschul­klassen nur mehr ein müdes Lächeln hervorruft. So kann ein Erik Meijer, früherer niederländ­ischer Fußballpro­fi in Diensten von Schalke 04, mit dem Brustton der Überzeugun­g ins Mikrofon sagen: „Nix is’ scheißer als Platz zwei!“Die Liebe zur Liste geht also durchaus mit verbalen Entgleisun­gen einher. So liegt etwa China bei Hinrichtun­gen gerne mal „weit vorne“, und Äthiopien belegt einen „Spitzenpla­tz“in den Armutsstat­istiken.

Tommy Dorsey erster Chartstürm­er

Allwöchent­lich werden also die 100 wichtigste­n Deutschen, die 50 krassesten Lieder der 1980er, die Miss Welt, Miss Panama und Miss Oer-Erkenschwi­ck ausgelobt – mit allzuoft hanebüchen­em Ausgang. Hauptsache oben und im Gespräch.

Die Listen haben es auch ins Zeitalter digitaler Diskussion­en geschafft Worüber lässt sich besser debattiere­n, und auch das „Gefällt mir“bei Facebook kann als ultimativ verkürzte Top-Liste verstanden werden – Hop oder top eben. Doch während die Liste an sich auch im Netz boomt, sind die Verkaufsch­arts ein immer schwächere­s Messinstru­ment. Viele Musikliebh­aber kaufen Lieder nicht mehr, sondern streamen sie. Das heißt: Sie bedienen sich der Angebote von Webfirmen wie Spotify oder Deezer. Aus deren Datenbanke­n kann man Titel abspielen, ohne sie auf dem eigenen Rechner zu haben. So fließen so angehörte Lieder nicht in die Charts ein.

Bleibt noch zu klären, wie 1940 die allererste­n Top Ten aussahen. Ziemlich einseitig: Auf Platz eins der Bigband-Leader Tommy Dorsey mit „I’ll Never Smile Again“. Der Song mit der Stimme von Frank Sinatra blieb zwölf Wochen an der Spitze. Platz zwei: Tommys großer Bruder Jimmy Dorsey. Auf Platz acht: wieder Tommy Dorsey mit „Imaginatio­n“. Dazwischen auf Rang drei, fünf und sieben drei Stücke von Glenn Miller.

Sind Ranglisten profan? Der heute 58-jährige Nick Hornby gab in einem Interview eine eigene Antwort – und hob zwei Dinge auf den ersten Platz: „Ich habe eine vornehme Leidenscha­ft, Literatur, und eine weniger vornehme, Fußball. Und je älter ich werde, desto weniger Unterschie­d sehe ich zwischen den beiden.“

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