Verdammt zu Platz eins
Vor 75 Jahren veröffentlichte das Magazin „Billboard“die ersten Charts
BONN ( KNA) - Der moderne Mensch liebt Ranglisten, Rankings, Hitlisten. Ob Tennis, Urlaubsziele oder RTLShows: Alles muss gelistet sein. Erst vor 75 Jahren hat die Menschheit so richtig damit angefangen: mit den „Billboard Charts“.
Nick Hornby führte die „All Time Top Five“zu literarischen Ehren. Der musikvernarrte Brite und Ich-Erzähler aus „High Fidelity“(1995) hangelt sich mit persönlichen Charts durch seinen Roman. Im Leben gehe es doch eigentlich nur um eins: „die ewigen Top Five meiner unvergesslichen Trennungen in chronologischer Reihenfolge: 1. Alison Ashworth, 2. Penny Hardwick; 3. Jackie Allen; 4. Charlie Nicholson; 5. Sarah Kendrew.“Unsere westliche Gesellschaft ist zu ewigen Ranglisten und zum Vornesein verurteilt und zwar seit dem 27. Juli 1940.
Die meistverkauften Songs
Das „Billboard“, heute das wichtigste Musikfachblatt Amerikas, war zunächst nicht mehr als ein Karnevalsmagazin. 1894 gegründet, brauchte es über ein halbes Jahrhundert, bis es in den 1950er-Jahren seine eigentliche Bestimmung fand. Bis heute ermittelt und veröffentlicht das „Billboard“die in den USA meistverkauften Songs: die „Charts“, die Top Ten, Top Hundred, Top irgendwas. Es geht um Verkaufs- und Abspielzahlen einzelner Titel aus Läden und Sendern. Zugrunde liegt die Häufigkeit, mit der Platten in Musikmaschinen und Plattenautomaten der USA gespielt wurden. Die allerersten Top Ten waren deklariert als eine „landesweite Aufstellung der bestverkauften Schallplattenaufnahmen“. Aus diesem vielleicht sogar unschuldigen Ansinnen wurde bald das Wertgefühl der gesamten westlichen Welt.
Das Denken in „Hop oder top“, in Aufsteiger und Absteiger, ist in unseren Gesellschaften derart verinnerlicht, dass das olympische Motto des „Dabeisein ist alles“heute selbst in Grundschulklassen nur mehr ein müdes Lächeln hervorruft. So kann ein Erik Meijer, früherer niederländischer Fußballprofi in Diensten von Schalke 04, mit dem Brustton der Überzeugung ins Mikrofon sagen: „Nix is’ scheißer als Platz zwei!“Die Liebe zur Liste geht also durchaus mit verbalen Entgleisungen einher. So liegt etwa China bei Hinrichtungen gerne mal „weit vorne“, und Äthiopien belegt einen „Spitzenplatz“in den Armutsstatistiken.
Tommy Dorsey erster Chartstürmer
Allwöchentlich werden also die 100 wichtigsten Deutschen, die 50 krassesten Lieder der 1980er, die Miss Welt, Miss Panama und Miss Oer-Erkenschwick ausgelobt – mit allzuoft hanebüchenem Ausgang. Hauptsache oben und im Gespräch.
Die Listen haben es auch ins Zeitalter digitaler Diskussionen geschafft Worüber lässt sich besser debattieren, und auch das „Gefällt mir“bei Facebook kann als ultimativ verkürzte Top-Liste verstanden werden – Hop oder top eben. Doch während die Liste an sich auch im Netz boomt, sind die Verkaufscharts ein immer schwächeres Messinstrument. Viele Musikliebhaber kaufen Lieder nicht mehr, sondern streamen sie. Das heißt: Sie bedienen sich der Angebote von Webfirmen wie Spotify oder Deezer. Aus deren Datenbanken kann man Titel abspielen, ohne sie auf dem eigenen Rechner zu haben. So fließen so angehörte Lieder nicht in die Charts ein.
Bleibt noch zu klären, wie 1940 die allerersten Top Ten aussahen. Ziemlich einseitig: Auf Platz eins der Bigband-Leader Tommy Dorsey mit „I’ll Never Smile Again“. Der Song mit der Stimme von Frank Sinatra blieb zwölf Wochen an der Spitze. Platz zwei: Tommys großer Bruder Jimmy Dorsey. Auf Platz acht: wieder Tommy Dorsey mit „Imagination“. Dazwischen auf Rang drei, fünf und sieben drei Stücke von Glenn Miller.
Sind Ranglisten profan? Der heute 58-jährige Nick Hornby gab in einem Interview eine eigene Antwort – und hob zwei Dinge auf den ersten Platz: „Ich habe eine vornehme Leidenschaft, Literatur, und eine weniger vornehme, Fußball. Und je älter ich werde, desto weniger Unterschied sehe ich zwischen den beiden.“