Trauriger unter Siegern
Joshua Kimmich wirkt zunehmend frustriert über seine Bankrolle beim FC Bayern
MÜNCHEN - Über mangelnde Perspektiven kann sich Joshua Kimmich nicht beschweren. Ende Mai, wenn die Weltstars Philipp Lahm und Xabi Alonso die letzten Vorstellungen ihrer großen Abschiedstourneen gegeben haben, werden beim FC Bayern München zwei Planstellen frei, die beide wie geschaffen scheinen für diesen 22-Jährigen aus Bösingen im Landkreis Rottweil. Dessen Verwandlung zum Weltstar scheint eigentlich seit mindestens einem Jahr vorgezeichnet. Solche passsicheren Überallspieler wie Kimmich gibt es selbst beim amtierenden und ziemlich sicher auch nächsten Meister nicht allzu oft. Das weiß Kimmich ebenso gut wie Carlo Ancelotti, sein Trainer.
Nächste Saison hat Kimmich die vielleicht historische Chance, entweder zum neuen Lahm oder zum neuen Alonso werden zu können. Die Gegenwart ist für Kimmich gerade aber eher grau. Beim glanzlosen 3:0 (2:0) gegen Eintracht Frankfurt, durch das die Bayern trotz einer „in der ersten Halbzeit grenzwertigen Leistung“(Lahm) ihren Vorsprung auf den Tabellenzweiten Leipzig auf nunmehr zehn Punkte ausbauten, saß Kimmich 90 Minuten auf der Bank. Schon wieder. Schon beim 8:0 gegen den HSV vor zwei Wochen hatte Kimmich widerwillig den Bankwärmer geben müssen, in den letzten fünf Pflichtspielen kam er gerade einmal auf 42 Einsatzminuten. Die Zukunft muss offensichtlich warten. Auch, weil Ancelotti in den entscheidenderen Wochen der Saison traditionell kaum rotiert – und der Coach, selbst wenn Lahm (beim 5:1 beim FC Arsenal am Dienstag) und Alonso (gegen Frankfurt am Samstag) mal nicht spielen dürfen oder können, lieber Rafinha als Rechtsverteidiger respektive Thomas Müller im offensiven Mittelfeld aufgeboten hat.
Kimmich wurde so in den letzten Wochen, in denen die Bayern immer stabiler und meisterlicher wurden, und, wie am Dienstag und Samstag, mittlerweile sogar jene Spiele hoch gewinnen, in denen sie über weite Strecken eher fahrig agieren, zum Traurigen unter Siegern. Am Samstag äußerte er seinen verständlichen Frust zum ersten Mal auch öffentlich. Auf keineswegs respektlose oder despektierliche Weise, aber doch sehr entschieden. „Das spielt keine Rolle“, antwortete er auf die Frage, ob er Ancelotti verstehen könne, dass er ihn, der seiner Mannschaft zu Beginn der Hinrunde noch mit wettbewerbsübergreifend sieben Toren einige Spiele gerettet hatte, zuletzt eher seltener einsetzte. Ancelotti wisse, „dass ich auf der Sechs und rechts hinten spielen kann – und auch in der Innenverteidigung. Daher hat er viele Optionen, mich einzusetzen“, sagte Kimmich. Macht er aber nicht. „Fakt ist, dass ich damit natürlich nicht zufrieden bin, dass es nicht mein Anspruch ist – und dass ich es ändern möchte.“Fragt sich nur, wie. Kimmichs Hoffnung: „In der Bundesliga haben wir jetzt einen guten Vorsprung, vielleicht wird dann rotiert“
Ancelotti stellte am Samstag eine gewisse Rotation zumindest in der Bundesliga immerhin in Aussicht. Allerdings bezog er sich dabei vor allem auf die Innenverteidigung und auf Jérôme Boateng. Der gab am Samstag ein umjubeltes 25-MinutenComeback nach mehr als dreimonatiger Verletzungspause. Die Rückkehr des, wie Ancelotti sagte, „fantastischen Innenverteidigers“gebe ihm „die Möglichkeit zu rotieren, weil wir im April viele wichtige Spiele haben“. In der Innenverteidigung gebe es „keine Nummer eins, zwei oder drei“, so Ancelotti. Er werde wechseln, „so bleiben alle frisch“. Zuletzt spielten immer Javi Martínez und Mats Hummels, der seine Mannschaft in der ersten Halbzeit mit einer formvollendeten Monstergrätsche gegen den davon geeilten Branimir Hrgota vor einem frühen Rückstand gerettet hatte.
Rangnick zeigt „Joxit“-Option auf
Über Kimmich sprach Ancelotti am Samstag nicht. Dafür gab Lahm, ganz Kapitän, einen wohlgemeinten Rat: „Josh hat gezeigt, auf welchem Niveau er Fußball spielen kann, aber wir sind bei Bayern. Da ist es schwierig, immer von Anfang an zu spielen über eine ganze Saison. Das muss man auch irgendwo akzeptieren. Er verhält sich absolut professionell und ich glaube auch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er wieder spielt“, sagte er.
Und wenn nicht? Am Sonntag meldete sich im „Doppelpass“auf Sport1 schon einmal ein alter Förderer zu Wort. „Das ist eine gute Idee!“, beantwortete Leipzigs Sportchef Ralf Rangnick die Frage, ob er Kimmich, der schon zwischen 2013 und 2015 in Leipzig spielte, ausleihen würde, sollte sich die Möglichkeit ergeben. Allerdings: „Ich will es gar nicht pauschal ausschließen. Aber ob es realistisch wäre, hängt ja erst einmal davon ab, ob Jo sich sowas überhaupt vorstellen könnte. Und zweitens, ob Bayern so etwas überhaupt machen würde. Das wäre ja die nächste Frage“, so Rangnick.
Wahrscheinlich ist der „Joxit“nicht. Doch, immerhin, an Perspektiven mangelt es Kimmich wahrlich nicht.