Kiew sonnt sich im Glanz der alten Tage
Mit der Ausrichtung des Eurovision Song Contests will die Ukraine endlich in Europa ankommen
Es ist ein kalter, aber sonniger Frühlingstag auf dem Andreassteig. Der legendäre Straßenzug verläuft wie ein langgezogenes S und verbindet Kiews Ober- und Unterstadt. „Unser Montmartre“, so bezeichnen die Einwohner der ukrainischen Hauptstadt diese Meile voller Stolz. Ähnlich wie am berühmten Pariser Hügel stellen hier Künstler ihre Werke aus, und am Abend schlendern Verliebte über die kopfsteingepflasterte Gasse. Fast immer sind auch Straßenkünstler anzutreffen. Heute ist es eine Gruppe singender Kinder, die gerade ein Musikvideo aufnimmt. Liedermacher Gerd Krambehr hat ein neues Stück geschrieben. „Kiew“heißt es. Der Song ist eine Liebeserklärung an die Stadt und ihre Bewohner. „Ich mag Kiew“, bekennt Krambehr, der in Thüringen zu Hause ist. „Ich komme immer wieder gern hierher und habe inzwischen auch viele Freunde in Kiew“, erzählt der 60-Jährige. Es ist übrigens nicht sein erstes Kiew-Lied. Mit dem Musik-Video „Maidan“brachte er vor drei Jahren seine Sympathie für die Bürgerproteste zum Ausdruck. Mit seinem neuen Lied möchte er das Umfeld des Eurovision Song Contest nutzen, um auf die Schönheiten von Kiew aufmerksam zu machen. „Der Wettbewerb“, so Krambehr, „holt ein Millionenpublikum vor den Fernseher. Das ist eine gute Gelegenheit, etwas Werbung für die Stadt zu machen.“Vom 9. bis 13. Mai findet der ESC in Kiew statt.
Mit „O.Torvald“schickt das Gastgeberland erstmals eine Rockband ins Rennen. „Time“heißt der Song der fünf Musiker. „Let’s take time to find a place without violence“, heißt es an einer Stelle des Liedes. Damit nehmen sie den roten Faden der Vorjahressiegerin Jamala wieder auf, die in ihrem Song das Schicksal der Krimtartaren im Zweiten Weltkrieg thematisiert hatte und mit ihrem Lied gegen Gewalt angesungen hat. Beim Song Contest wird es auch ein Wiedersehen mit einem in Deutschland bestens bekannten Ukrainer geben: Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko wird zu sehen sein. Er ist mittlerweile Bürgermeister in Kiew und setzt auf den völkerverbindenden Aspekt des Wettbewerbs: „Musik vereint die Menschen, Länder, Kontinente. Und das ist heute besonders wichtig für die Ukraine.“
Kiew, mit knapp drei Millionen Einwohnern größte Stadt der Ukraine, gehört immer noch zu den unentdeckten Metropolen des Kontinents. Dabei ist Kiew viel älter als Moskau und kann auf mehr als 1500 Jahre Geschichte zurückblicken.
Mit der Kerze ins Höhlenkloster
Das wichtigste Heiligtum ist das Höhlenkloster. Mit einer brennenden Kerze in der Hand können Besucher die Höhlen besichtigen, in denen die Mönche einst gelebt und gebetet haben. Später, als der Bau oberirdischer Gebäude erlaubt wurde, dienten die Katakomben nur noch als Begräbnisstätten. Die mehr als 70 Kirchen und Klöster, die sich auf dem großen Areal befinden, sind in ihrer heutigen Form zumeist erst im 18. Jahrhundert entstanden. 1929 schlossen Kommunisten das ihnen verhasste Symbol des ukrainischen Geistes. Einige Kirchen wurden als Lagerräume missbraucht, andere in Museen umgewandelt. Erst seit 1988 ist der Wallfahrtsort, der von den orthodoxen Christen auch als zweites Jerusalem bezeichnet wird, wieder im Besitz der Kirche. Über 100 Mönche leben heute in den Klosteranlagen. Die mit sieben goldenen Kuppeln verzierte Maria-Himmelfahrtskathedrale, der Große Glockenturm und die erst in den 1990er-Jahren wieder aufgebaute Uspenski-Kathedrale gehören zu den sehenswerten Gebäuden.
Wie das Höhlenkloster steht auch die Sophienkathedrale auf der Liste der Weltkulturgüter der Unesco. Nach dem Vorbild der Hagia Sophia in Istanbul errichtet, war sie die Hauptkathedrale der Kiewer Rus, die als Vorläuferstaat des heutigen Russland gilt. Es grenzt an ein Wunder, dass trotz mehrfacher Zerstörungen, wiederholter Rekonstruktionen und Erweiterungen die unschätzbaren Mosaike und Fresken erhalten geblieben sind.
Eine andere bedeutende Sehenswürdigkeit ist die Goldkuppelkirche des Heiligen Michael. Im 12. Jahrhundert entstanden, wurde das Gotteshaus 1937 als „historischer Müll“abgerissen. Von 1997 bis 2000 wieder aufgebaut, ist der Prachtbau der Stolz aller Ukrainer. Gerade die Kirche war es, die den Menschen in unruhigen Zeiten immer Zufluchtsort war und Zuversicht vermittelte.
Heute feiern die Kiewer sich und die neue Zeit. Beliebter Treffpunkt ist der Krestschatik, die Promeniermeile der Stadt. Auf fast zwei Kilometern reihen sich Wohn- und Bürogebäude im Zuckerbäckerstil aneinander. Hier wird am deutlichsten, dass Kiew den Sprung aus der Planin die Marktwirtschaft geschafft hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen verstaubte Auslagen das Bild der staatlichen Läden bestimmten. Elegante Boutiquen, die internationale Mode, aber auch Kreationen einheimischer Modemacher anbieten, wechseln sich mit teuren Restaurants ab.
Viel los ist auch im Podil-Viertel. Ein beliebter Treffpunkt ist die PRBar. Schnell kommen hier Besucher und Einheimische ins Gespräch. Danylo, ein Marketing Manager, freut sich, dass in Kürze die Visafreiheit mit der EU kommt. „Dann können wir einfacher in Europa reisen, und wir hoffen auch, dass mehr Besucher zu uns ins Land kommen. Ich habe das Gefühl, dass wir langsam in Europa ankommen“, sagt er.