Geschwächt in die Regierungsbildung
Theresa May ist auf die nordirisch-unionistische Partei DUP angewiesen
LONDON - Niederlage? Welche Niederlage? Unverwandt schaut Theresa May in die Kameras vor dem Amtssitz des britischen Premierministers in der Downing Street und spricht mit fester Stimme. Natürlich ist von den bevorstehenden BrexitVerhandlungen die Rede, auch der Kampf gegen islamistische Extremisten findet Erwähnung. Und dann spricht May, ein wenig kurios, über ihre „Freunde und Alliierten“. Gemeint sind die zehn Abgeordneten der nordirisch-unionistischen Partei DUP. Mit denen werde sie fünf Jahre lang „im Interesse des Vereinigten Königreichs zusammenarbeiten“, sagt die hochgewachsene Frau im blauen Kostüm und verschwindet hastig mit Ehemann Philipp hinter der berühmten schwarzen Tür.
Ungläubig schauen sich die zurückbleibenden Journalisten an: Hat May tatsächlich ihre Demütigung bei der Unterhauswahl durch die britischen Wähler mit keinem Wort erwähnt? Sprach da gerade die Vorsitzende jener Partei, die bis Mitte April mit eigener Mehrheit im Unterhaus regierte, bei der vorgezogenen Wahl aber trotz Stimmengewinnen Mandate verloren hat, weshalb sie jetzt bei der Regierungsbildung auf die Unterstützung protestantischer Fundamentalisten angewiesen ist? Auf einen Schlag verdeutlicht May ihre Schwäche: Von politischer Kommunikation versteht die hölzerne Regierungschefin wenig. „Bizarre Rede, falscher Ton, keine Demut“, fasst eine Journalistin des „Guardian“ihren Eindruck zusammen. Dass die Premierministerin mit solchen Methoden eine ganze Legislaturperiode durchstehen kann, bezweifeln viele.
Die Mitglieder der Regierungspartei haben zu diesem Zeitpunkt den schlimmsten Schock bereits verdaut. Wie viele Angehörige der oppositionellen Labour-Party mochten sie am Donnerstagabend um 22 Uhr nicht glauben, was nach Schließung der Wahllokale die gemeinsame Prognose der großen TV-Sender den Briten verkündete: Mays schöner Plan eines Erdrutschsieges ist an der Realität von Labour-Chef Jeremy Corbyns dynamischer Wahlkampagne gescheitert. 314 Sitze lautet die Vorhersage für die Torys, am Ende der Nacht werden es 318 sein – zu wenig für die Alleinregierung, zu der 322 Mandate nötig sind.
Schon gegen Mitternacht ging bei den Torys hinter vorgehaltener Hand die Diskussion über die Parteivorsitzende los. Ob der Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson, zuletzt wenig glücklich agierender Außenminister, eine neue Chance auf den Umzug in die Downing Street erhält? Oder gar Brexit-Minister David Davis, der in vertraulichen Gesprächen mit Journalisten nie versäumt, auf seine Vorzüge hinzuweisen.
Am Ende wagt sich keiner der ehrgeizigen Herren aus der Deckung. Die knapp wiedergewählte Pro-Europäerin Anna Soubry ist gegen 4.30 Uhr die erste, bleibt aber auch die einzige Konservative, die offen May infrage stellt. „Unsere Kampagne war furchtbar“, sagt die Abgeordnete aus der Nähe von Nottingham. „Theresa May muss ihre Position überdenken.“
Das sieht Labour-Chef Jeremy Corbyn, 68, ähnlich. Fröhlich lässt sich der Herr im dunklen Anzug und roter Krawatte in seinem Nord-Londoner Wahlkreis Islington feiern. Er habe Politik immer als Vertretung für die Anliegen der Bürger verstanden, von diesen aber auch „viel gelernt“, betont der Veteran von neun Wahlkämpfen und weist auf die höchste Beteiligung in seinem Wahlkreis seit 1951 hin. Damit benennt der Oppositionsführer auch einen der Gründe für seinen Erfolg: Corbyn hat es nicht nur geschafft, junge Leute für die Anliegen der Sozialdemokraten zu begeistern. Sie sind auch, anders als von vielen Meinungsforschern vorausgesagt, „zur Wahl gegangen“, sagt John Curtice, Politologe an der Glasgower Strathclyde-Universität.
Das hat erhebliche Auswirkungen: Labour holt 40 Prozent der Stimmen (plus zehn) und gewinnt Mandate dazu. In Canterbury jagen die Sozialdemokraten dem seit 30 Jahren amtierenden Tory-Brexitbefürworter Julian Brazier das Mandat ab. Zum ersten Mal seit 99 Jahren wird die Uni- und Bischofsstadt nicht von einem Konservativen vertreten. In der Industriestadt Sheffield, die mittlerweile von Universitäten geprägt ist, verliert der frühere Vizepremier und liberaldemokratische Parteichef Nick Clegg sein Mandat.
Eine „Revanche der Jugend“
Eine Hand voll Prominenter hatte den Urnengang zum Abschied aus dem Parlament genutzt, ohne die öffentliche Demütigung einer Wahlniederlage zu riskieren. Dazu zählt Ex-Finanzminister George Osborne, den die damals frischberufene Premierministerin im Juli brutal aus dem Amt jagte. Mittlerweile amtiert der smarte Tory-Reformer als Chefredakteur der Londoner Abendzeitung „Evening Standard“.
Eine andere Polit-Aussteigerin sieht dem Zwist bei den Torys distanziert zu. Vergangenes Jahr zählte die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart zu den prominenten Brexit-Vorkämpfern, jetzt hat sie ihren Wahlkreis in BirminghamEdgbaston für Labour Preet Gill erobert. Die erste Abgeordnete, die der Sikh-Religion angehört, wird im Unterhaus zwei bisher unterrepräsentierte Gruppen verstärken, die diesmal gut abgeschnitten haben: 51 Angehörige ethnischer Minderheiten werden das hohe Haus bevölkern.
Die Wahl komme „einer Revanche der Jugend für den Brexit“gleich, sagt der konservative Ex-Parlamentarier Matthew Parris. Der angesehene Historiker Simon Schama bringt es auf den Punkt: Der harte Brexit sei tot, die Premierministerin liege auf der politischen Intensivstation. Aber die Demokratie, „die ist quicklebendig – toll“.