Tim ist auf einem guten Weg
Die Stiftung St. Anna aus Leutkirch feiert ihr 150-jähriges Bestehen – Ein Fall aus dem Alltag der Kinder- und Jugendeinrichtung
LEUTKIRCH - Wer ist Tim? Definitiv kein Einzelfall. Jugendliche, die in Krisen geraten, und das schon von Kindheit an, landen häufig bei einer Einrichtung wie St. Anna in Leutkirch. Die Stiftung kommt mit Tim in Kontakt, als dieser zwölf Jahre alt ist. Er lebt bei seiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht besitzt, zusammen mit seiner sechs Jahre alten Schwester. Die Mutter wird unter anderem auch wegen „depressiver Episoden“behandelt. Es wird unterstellt, dass es während der Ehe auch zu Gewalt gekommen ist. Sie bezeichnet ihren früheren Partner nur als „Tims Erzeuger“. Der habe dem Sohn gegenüber zwar immer wieder Versprechen gemacht, diese aber nie gehalten.
Mag das eine Erklärung dafür sein, dass Tim in der Schule einerseits als verträumter Typ gilt, der dann aber „scheinbar grundlos Mitschüler und Lehrkräfte beschimpft“? Er fällt auch dadurch auf, dass Hausaufgaben fehlen, dass er nicht immer richtig angezogen ist, wenn er im Winter mit Sommerkleidung zum Unterricht erscheint. Er gerät in eine Rolle als Einzelgänger.
Über die Schule wird das Jugendamt auf den Jungen aufmerksam. Ein Sozialarbeiter schaltet sich ein und erfährt, dass sich Tim sehr liebevoll um die kleinere Schwester kümmere. Doch der Mutter gegenüber werde er rebellisch. Die Mutter gesteht ein, dass sie auch wegen der klammen finanziellen Verhältnisse stark belastet sei. So kommt Tim zu St. Anna in eine Wohngruppe mit dem erklärten Ziel, dass der Junge langfristig wieder zu Hause leben soll.
Verhalten verstehen
Die Stiftung St. Anna feiert am 25. Juni ihr 150-jähriges Bestehen. Sie definiert sich als Kinder-, Jugend- und Familienhilfeeinrichtung und als Kompetenzzentrum für sonderpädagogische Fragen in Leutkirch und in der Region. Auch Bischof Gebhard Fürst wird zu den Feierlichkeiten kommen. Die frühere „Annapflege“sieht sich dem christlichen Wertebild stark verpflichtet, sie betreut aber Jugendliche konfessionsübergreifend. Ein Schwerpunkt dabei, ob ganztags, ob im Heim, ob in Tagesgruppen, ist immer der Ansatz, die Zusammenarbeit mit der Familie zu pflegen. Tim ist so ein Fall.
Michael Lindauer, der geschäftsführende Vorstand und Leiter der Einrichtung, formuliert es so: „Jedes Verhalten hat eine Begründung. Wer dieses versteht, der kann eher nachvollziehen, weshalb Kinder so handeln.“Jochen Narr, Lindauers Stellvertreter und verantwortlich für die Wohngruppen, spricht von schmerzlichen Prozessen und darüber, „dass sich Jugendliche auszusöhnen haben mit ihrer Geschichte“. Wie Tim.
Ein Verfahren beginnt, in dem im Mittelpunkt steht, gegenseitig Vertrauen zu schaffen. Die Mutter und Tim, mal zusammen, häufig auch in Einzelgesprächen, sollen dafür gewonnen werden, sich zu öffnen und ihre Probleme mit geschultem Personal zu bereden. Die Stiftung versteht sich als Institution, die Hilfe anbieten will und keine fertigen Patentrezepte aus der Schublade zieht. „Jeder Fall ist anders, auch wenn sich Parallelen zu anderen Schicksalen zeigen“, sagt Lindauer. Warum schwänzt Tim bisweilen die Schule? Weil er sich um die Schwester sorgt, weil er sich in der Verantwortung dafür sieht, sich in die Grundversorgung der Familie mit einzubringen durch Einkäufe und Besorgungen, wenn es der Mutter gerade schlecht geht. Dann hat sich Tim im Tafelladen angestellt. Hier soziales Verhalten im besten Sinne, andererseits aber vordergründig die Ablehnung vermeintlich starrer Regeln. Der Junge steht ständig unter Druck.
Nach zwei Jahren hat die Struktur in der Familie neue Züge angenommen. Die Mutter nimmt die Unterstützung durch die Betreuer an, sie sieht darin keine Konkurrenz mehr. Sie hat eine Therapie begonnen. Auch Tim fühlt sich Zug um Zug mehr verstanden, auch wenn es ihm schwerfällt, zu offen über seine Gefühle zu reden. Doch er hat einen Freund in der Gruppe und auch einen engeren Kontakt zu einem Lehrer gefunden, dem er sich mehr anvertraut. Eine verlässliche Beziehung zum Vater aber steht noch aus, obwohl die Erzieher glauben, dass Tim dessen Lage realistischer einschätzen könne. Mal verteufelt er zwar diesen, mal stellt er sich aber auch entschuldigend vor ihn. Immerhin fährt Tim mittlerweile alle 14 Tage nach Hause, auch Teile der Ferien verbringt er im familiären Umfeld.
Noch ist offen, wohin Tims Weg tatsächlich führen kann. Aber die Prognose ist positiv. Aus einem störrischen, aggressiven Sonderling ist ein Jugendlicher geworden, der seine eigene Lage eher annimmt.
„Wir müssen immer sehr individuell jeden Fall besprechen“, sagt Lindauer. Das weitere Vorgehen wird nicht nur im eigenen Team abzustimmen sein. Auch das Jugendamt gehört dazu. Tim aufzugeben wäre die schlechteste Lösung. Andere Tims haben es dank der professionellen Betreuung auch geschafft.