Gewalt und Elend führen zum Tod am „Tor der Tränen“
Das „Tor der Tränen” nennen die Jemeniten die Meerenge, die den Golf von Aden mit dem Roten Meer verbindet. Der Legende nach sollen dort bei einem Erdbeben Zehntausende von Menschen ertrunken sein. Durch die Naturkatastrophe, heißt es, sei der afrikanische vom asiatischen Kontinent getrennt worden. Ein Schauplatz entsetzlicher Tragödien ist das „Tor der Tränen“bis heute geblieben.
Täglich bringen Schlepperbanden Flüchtlinge von der somalischen Küste in den 100 Kilometer entfernten Jemen. Was auf der Überfahrt geschieht, wird nur selten berichtet. Oft schlagen die Kapitäne der Boote mit Holzknüppeln auf ihre Schutzbefohlenen ein, wenn diese ihre Anweisungen nicht befolgen oder es, wie in dieser Woche, beim Aussteigen an der Küste der jemenitischen Provinz Schabwa zu Verzögerungen kommt.
„Aus Furcht, von Milizen aufgegriffen zu werden, stießen die Schlepper mehr als 180 Flüchtlinge ins stürmische Meer“, berichtete am Donnerstag die Internationale Organisation für Migration (IOM). Mindestens 55 von ihnen, darunter auch Kinder, ertranken. 30 werden noch vermisst. Ihre Überlebenschancen sind gering.
Bereits am Mittwoch hätten Menschenschmuggler 120 Menschen aus ihren Booten ins offene Meer getrieben. 50 seien ertrunken. Es könnte sich um den „Beginn eines neuen Trends“handeln, sagte IOM-Sprecherin Olivia Headon der Nachrichtenagentur Reuters.
Die meisten der Flüchtlinge gehören offenbar der äthiopischen Volksgruppe der Oromo an. Die größte ethnische Gruppe in dem ostafrikanischen Land ist nach Erkenntnissen von Amnesty International willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. Es gäbe Fälle von Folter und Hinrichtungen. Wie verzweifelt die Oromo sein müssen, zeigt ihre Bereitschaft, in ein Land zu flüchten, in dem seit mehr als zwei Jahren ein brutaler Bürgerkrieg tobt und mehr als 400 000 Menschen mit Cholera infiziert sind.
Unerwünschte Migranten
111 500 afrikanische Flüchtlinge kamen 2016 in den Jemen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es nach UN-Schätzungen knapp 60 000. Die Heimatlosen hoffen auf Arbeit in Saudi-Arabien oder den Emiraten am Persischen Golf. Doch Flüchtlinge aus Bürgerkriegsstaaten sind dort unerwünscht. Als „Gastarbeiter“auf der arabischen Halbinsel verpflichtet werden vor allem Nichtmuslime aus Indien, Thailand und Sri Lanka. Jemeniten gelten als Unruhestifter, weshalb die meisten Einwohner des ärmsten Landes Arabiens lieber in ihrer von arabischen Kampfflugzeugen zerbombten Heimat bleiben als auf der Flucht ins Ungewisse zu sterben.
Allerdings ist auch die Leidensfähigkeit der Jemeniten begrenzt. Mehr als 5000 ließen sich 2016 von Menschenschmugglern nach Somaliland und Djibouti bringen. Eine andere Flüchtlingsroute führt von der jemenitischen Küste über das Rote Meer in den Sudan – und von dort aus auf dem Landweg zur libyschen Mittelmeerküste. Der Tod lauert auch auf dieser Route: Anfang März hatten saudische „Apache“-Kampfhubschrauber am „Tor der Tränen“ein Boot mit über 100 afrikanischen Flüchtlingen beschossen und versenkt.