Grandioses Porträt einer Epoche
Helmuth Kiesel verknüpft Literatur und Politik der Weimarer Republik
Diese Literaturgeschichte lebt von politischen Koordinaten. Sie beschreibt eine Epoche, die vom Kriegsende 1918 bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Jahre 1933 reicht. Helmuth Kiesel, Literaturwissenschaftler an der Universität Heidelberg, hat ein 1300 Seiten starkes Buch geschrieben, das durch die dichte Verzahnung von Ereignis- und Literaturgeschichte geradezu vitalisiert wird.
Die Literatur dieser Epoche ist so robust, dass sie durch den politischen Rahmen, der hier immer mitgedacht wird, nicht unter die Räder kommt. Kiesel will Literatur nicht „als reagierendes Medium“zeigen, sondern als einen „Gestaltungsfaktor der Epoche“. Und die ist ohnehin, wie er schreibt, für die Literatur eine „Glanzzeit, in der mustergültige Werke in allen Gattungen entstanden sind“. Deren Aufzählung allein würde den Platz einer Besprechung füllen – von den heute Vergessenen ganz zu schweigen. Deshalb nur einige Romantitel: Franz Kafkas „Schloss“von 1922, Thomas Manns „Zauberberg“von 1924; Hermann Hesses „Steppenwolf“von 1927; Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“aus den Jahren 1930 bis 1933.
Hinzu kommt, dass die Literatur dieser Jahre entschieden auf die Gegenwart schaut. Sie entwickelt Formen, die ohne Ewigkeitsanspruch den Alltag in den Blick nehmen, die um Meinungen kämpfen oder Arbeitswelten erkunden wie die neue Kultur der Angestellten. Voraussetzung dafür war ein zumindest anfangs vitaler Markt für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Und dieser Boom hatte eine schlichte Voraussetzung in der Politik: Zum ersten Mal war das geschriebene Wort frei von der Zensur der Kaiserzeit und der Militärdiktatur im Krieg.
Es gibt auch Felder, bei denen Literatur und Politik auseinanderlaufen. Daher spricht Kiesel im Titel dezidiert von der „deutschsprachigen Literatur“. Nicht nur Österreich und der Schweiz gilt seine Aufmerksamkeit, sondern auch den Autoren aus jenen Gebieten, die abgetreten werden mussten. Oder wo die deutschsprachige Bevölkerung abwanderte wie aus Prag, Rumänien oder dem Baltikum.
Zudem repräsentiert die Literatur „in“der Weimarer Zeit politisch nicht „die“Weimarer Republik. Sie spiegelt vielmehr eine in sich tief gespaltene Gesellschaft. Auch viele Literaten standen der Demokratie fremd gegenüber. Und so sind hier auch die nationalistische und die aufkommende nationalsozialistische Literatur verortet.
Kiesel serviert seinen Lesern drei Durchgänge. Sein erster Teil, 200 Seiten stark, ist ein Epochenporträt der Weimarer Zeit. Teil zwei umfasst 800 Seiten und verfolgt sehr detailliert (das Inhaltsverzeichnis ist alleine schon zehn Seiten lang) das Wechselspiel von Literatur und Gesellschaft. Die abschließenden 200 Seiten sind dann „reine“Literaturgeschichte. Sie beobachten, wie sich Lyrik, Drama und Roman entwickeln.
Neue literarische Formen
Hier zeigt sich Kiesels Prägung durch die Tübinger Literaturwissenschaft. Die Konzentration darauf, die Eigendynamik der literarischen Gattungen ins Visier zu nehmen, erweist sich immer wieder als kritische Methode gegen die Vereinnahmung oder Abstempelung von Autoren. Zum Merkmal der Epoche, die Kiesel darstellt, gehört das Aufkommen einer neuen Form des Romans, bei der die Erzählperspektive wechselt und der Fortschritt der Erzählung durch solche Wechsel immer wieder unterbrochen wird. Alfred Döblins Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“(1929) repräsentiert diesen Typus. Döblin hat dafür den „Ulysses“(1922) von James Joyce studiert. Viele Autoren folgten der neuen Form, andere behielten den traditionellen Erzählstil bei. Selten aber begleiteten formspezifische Überlegungen die jeweilige Entscheidung. Eine Reflexion der Möglichkeiten beider Erzählformen findet Kiesel bei Joseph Roth.
Kiesel macht deutlich, dass Roth ein konventioneller, und zwar ein bewusst konventioneller Erzähler war, der demonstrieren wollte, dass der traditionelle Erzählstil genauso leistungsund differenzierungsfähig sein kann wie der avantgardistische. In dieser formalen Betrachtung erschöpft sich das Bild des Autors nicht im üblichen Psychogramm eines Trinkers, der angeblich das Ende der k.-&k.-Zeit nicht verwunden hat.
Roths „Radetzkymarsch“erreichte nach seinem Erscheinen 1932 in kurzer Zeit eine hohe Auflage. Während erste Übersetzungen erfolgten, verhinderten die Nationalsozialisten die weitere Verbreitung. Roth verließ Deutschland am 30. Januar 1933. Es ist der Tag der Machtergreifung, der bei Kiesel das Ende dieser literarisch so reichen Epoche markiert. Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 – 1933, C. H. Beck, München 2017, 1300 Seiten, 58 Euro.