Wo das künstliche Paradies zum Alptraum wird
Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“am Theater St. Gallen kann sich hören und sehen lassen
ST. GALLEN - Eine Herausforderung für alle Beteiligten war es schon, Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“am Theater St. Gallen zum Saisonbeginn auf die Bühne zu bringen. Das anspruchsvolle Stück steht damit 100 Jahre nach seiner Uraufführung erstmals auf dem Spielplan dieses Hauses. Die von Antony McDonalds inszenierte und von Michael Balke dirigierte Produktion kann sich sehen und hören lassen.
„Die Gezeichneten“gehören zu den bedeutendsten Musikdramen des frühen 20. Jahrhunderts. Nach dem Ersten Weltkrieg galt Schreker als erfolgreichster Opernkomponist neben Puccini und Strauss. 1933 wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung aus seinen Ämtern gejagt. Ein Jahr später starb er. Aufführungen seiner Werke wurden von den Nazis verboten. Auch nach 1945 wurde dieser kulturelle Flurschaden im Klassikbetrieb lange nicht korrigiert. Es dauerte mehr als 30 Jahre, bis die „Gezeichneten“wieder auf die Bühne kamen.
Das Libretto hat Schreker 1911 zunächst für seinen Komponistenkollegen Alexander Zemlinsky geschrieben, dann aber selbst vertont. Die Handlung spielt in der Renaissancezeit. Der reiche Salvago hat zur Kompensation seiner Hässlichkeit auf einer Insel ein künstliches Paradies erschaffen. Junge Adlige, denen er dieses „Elysium“überlassen hat, feiern dort Orgien. In einer verborgenen Höhle missbrauchen sie aus der Stadt entführte Mädchen. Salvago scheint zu ahnen, dass die praktische Umsetzung seiner Vision des Schönen und Starken aus dem Ruder läuft. Er möchte die Insel den Bürgern der Stadt schenken.
Die Adligen um Frauenheld Tamare sind alarmiert. Salvago lädt den Bürgermeister ein. Dessen Tochter Carlotta ist Malerin und möchte Salvago porträtieren. Seine Schüchternheit reizt sie. Als Salvago ihr seine Liebe gesteht, wird er jedoch uninteressant für sie. Um so mehr fühlt sie sich nun zu Tamare hingezogen, den sie zuvor kühl zurückgewiesen hat. Voller Schuldgefühle wegen ihrer Untreue gibt sie sich dem Vergewaltiger hin. Als Salvago die beiden findet, bekennt sich Carlotta zu Tamare und stirbt. Salvago wird von seinem Rivalen als impotenter Schwächling verhöhnt, ersticht ihn und wird wahnsinnig.
Antony McDonald (Regie und Ausstattung) hat die Geschichte ins frühe 20. Jahrhundert versetzt. Die Adligen sind Mitglieder einer elitären männerbündischen Burschenschaft, die einem faschistischen Kult der Starken anhängen. In einem von Salvago betriebenen Club spielen sie zum Zeitvertreib Billard, fechten oder missbrauchen unter Drogen gesetzte Studentinnen. Was verboten ist, verschafft ihnen zusätzlichen Kick. Die riesigen Leuchtbuchstaben des Clubnamens „Elysium“erinnern an den bekannten HollywoodSchriftzug – eine Anspielung auf die Vergnügungsindustrie ebenso wie auf die Filmmusik-Affinität von Schrekers Partitur.
Erschütterndes Ende
McDonald zeichnet Carlotta als eine Figur mit Parallelen zu Alma Schindler, die vor ihrer Ehe mit Gustav Mahler Zemlinskys Schülerin und Geliebte war und auch später weitere Affären mit Künstlern – unter anderen mit Schreker selbst – einging. Bei McDonald ist die Malerin nicht in Salvago, sondern in ihr Bild von ihm verliebt und benützt ihre künstlerische Betätigung unbewusst nur, um ihn um den Finger zu wickeln.
In St. Gallen gelingt auch musikalisch eine großartige Umsetzung des schwierigen Stücks. Im kleinen Orchestergraben hat leider nicht die volle Besetzung von Schrekers üppigem Klangkörper Platz. Abstriche bei den Streichern machen sich bemerkbar, doch Gastdirigent Balke entfaltet die Magie des flüssigen, in allen Farben schillernden Tonsatzes bravourös. Andreas Conrad (Salvago), Claude Eichenberger (Carlotta), Josdan Shanahan (Tamare) und zahlreiche weitere Solisten singen beachtlich.
Erschütternd gerät die finale Wahnsinnsszene, die kompositorisch auch auf das Ende von Alban Bergs „Wozzeck“abgefärbt haben dürfte. Hinter jenen „Elysium“Buchstaben werden entführte Mädchen in Käfigen gehalten. Vor ihnen erscheint ein Geiger mit Schellenkappe, nimmt Salvago behutsam an der Hand und führt ihn ins Reich der Umnachtung. Zum gigantisch aufgegipfelten Fortissimo-Schlussakkord fällt der Vorhang.
Weitere Vorstellungen: 24. und 29. September, 4., 8., 31. Oktober. Karten unter: www.theatersg.ch