Erleichterung nach dem Schock
VfB-Kapitän Christian Gentner erleidet viele Brüche im Gesicht, wird aber wieder gesund
STUTTGART - 85 Minuten waren am Samstag gespielt, als Wolfsburgs Torhüter Koen Casteels eine Flanke so abfangen wollte, wie er es als Kind gelernt hatte. Der 25-Jährige stürmte aus seinem Fünfmeterraum, sprang Richtung Ball, zog das linke Bein nach – und erwischte mit seinem Knie Stuttgarts Kapitän Christian Gentner mitten im Gesicht. Es war ein Frontalzusammenstoß, wie es ihn so nur beim Kickboxen oder bei nächtlichen Unglücken auf Landstraßen gibt, Gentner fiel zu Boden, war kurz ohnmächtig, Mannschaftsarzt Raymond Best zog ihm die Zunge aus dem Hals und verhinderte so Schlimmeres. Gentner wurde mit einer Trage vom Platz getragen und sofort ins Krankenhaus gebracht. Seine Kameraden überstanden die siebenminütige Unterzahl – Trainer Hannes Wolf hatte bereits dreimal ausgewechselt – mit Bravour und brachten den 1:0 (1:0)-Sieg über die Zeit, doch das war am Ende sekundär.
Trainer Hannes Wolf stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Die Minuten danach waren dramatisch. Wir wussten ja nicht, was los ist, wir hatten Riesenangst, dass das bleibende Schäden hinterlässt. Wir stehen noch alle unter Schock und können uns nicht so über den Sieg freuen. Wir sind alle bei unserem Captain.“Die Fans in der Cannstatter Kurve riefen nicht wie üblich „Sieg“. Sie riefen: „Christian Gentner“.
Dreißig Minuten danach setzte kollektive Erleichterung ein. Gentner, das VfB-Urgestein aus Nürtingen, wird keine bleibenden Schäden davontragen. Seine Verletzungen sind gleichwohl schwer. Der 32-Jährige erlitt diverse Knochenbrüche im Gesicht, als da wären: der untere und seitliche Augenhöhlenboden, Nasenbein und Oberkiefer. Gentner werde in den kommenden Tagen operiert. „Es ist eine sehr bittere Nachricht sowohl für ihn und seine Familie als auch für uns“, sagte Sportvorstand Michael Reschke, „die wichtigste Nachricht ist aber, dass er wieder vollständig gesund wird.“
Der Zusammenstoß habe „brutal“ausgesehen, so Reschke. Dass er ungeahndet blieb, der VfB keinen Elfmeter zugesprochen und der bereits verwarnte Casteels weiterspielen durfte, sei aber angesichts der Umstände „völlig uninteressant, wurscht“, so Reschke. Auch Trainer Wolf hatte sich nach dem Abpfiff einmal mehr als fairer Sportmann gezeigt. Schon auf dem Feld hatte kein Stuttgarter eine Rote Karte für Casteels gefordert, der Trainer sagte: „Casteels ist einfach groß, er kann unheimlich hoch springen. Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass da Absicht dahinter steckt.“
Der Keeper selbst sagte, die Szene tue ihm unheimlich leid, aber er habe Gentner nicht gesehen, und im Eifer des Gefechts könne es passieren, dass einer zu Boden gehe, manchmal sei es auch der Torwart: „Von klein auf lernt man als Torhüter, dass man beim Hochspringen das andere Bein nachzieht. Man müsste die komplette Torhüterausbildung ändern, wenn man das ändern will.“
Dass der VfB gewonnen hatte, erleichterte und versachlichte die Debatte danach. Die Art, wie das zweite 1:0 im zweiten Ligaheimspiel zustande gekommmen war, machte Wolf glücklich. Der VfB spielte ungemein intensiv und war Wolfsburg in allen Attributen überlegen: Er kämpfte mehr, er lief mehr, er gewann mehr Zweikämpfe, vor allem aber spielte er mutiger nach vorn, „das hatte mir auf Schalke gefehlt“, sagte Wolf, der rundum zufrieden war. Auch mit seiner Dreierkette Baumgartl-PavardKaminski, die wenig zuließ und „gesehen hat, dass sie zu null spielen kann – das ist wichtig fürs Selbstvertrauen“.
Seine Jungspunde weiter vorne – Sechser Santiago Ascacibar (20) und Linksaußen Anastasios Donis (21), die erstmals von Beginn an spielten, sowie Chadrac Akolo (22) – ließen ohnehin nichts zu wünschen übrig. Die Flankenläufe des pfeilschnellen Donis sorgten zudem für permanente Gefahr, meist war Akolo der Adressat, so auch beim 1:0 (42.), als der Kongolese einen Abpraller Casteels’ technisch brillant verwertete und im zweiten Versuch einnetzte. Allerdings zog sich der Torschütze eine Zerrung zu, ob er am Dienstag beim Auswärtsspiel in Mönchengladbach (18.30/Sky) mitwirken kann, ist fraglich.
Ebenso, ob die junge VfB-Mannschaft in den nächsten Wochen auch ohne ihren Kapitän siegen kann. Gentners mögliche Vertreter Orel Mangala und Dzenis Burnic sind beide 19, der VfB dürfte die nächsten Spiele das jüngste Mittelfeld der Liga haben.