Wohlwollend mit uns selbst umgehen
Psychotherapeut und Buchautor Michael Tischinger spricht in Bopfingen über Selbstliebe
Dr. Michael Tischinger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt einer Oberstdorfer Klinik und Buchautor. In Bopfingen hält er auf Einladung der AOK einen Vortrag zum Thema „Selbstliebe – Weg zur inneren Haltung“. Unser Redakteur Bernhard Hampp hat mit ihm gesprochen.
Wir leben in einer egoistischen Welt – jeder ist sich selbst der Nächste. Wie kommt es, dass Sie da für mehr Selbstliebe plädieren?
Egoismus und Selbstliebe sind zwei komplett verschiedene Dinge. Das merken wir schon daran, dass wir uns an der Seite selbstliebender Menschen wohl fühlen, während uns Egoisten abstoßen. Der Egoist will kontrollieren, denkt nur an sich selbst, benutzt andere für seine Zwecke. Das kommt oft aus einem Mangel, dem Gefühl: Ich habe nicht genug.
Und die Selbstliebe?
...ist ein Ja zu sich selbst, eine freundliche wertschätzende Beziehung zu sich selbst, die auch anderen etwas gönnt und sich nicht ausschließlich an dem orientiert, was ich leiste. Viele Patienten sagen mir: „Wenn ich nichts tue, bin ich nichts wert.“Viele definieren ihren Selbstwert über das, was sie leisten. Die Einstellung, „Wer noch mehr leistet, ist noch mehr wert“, ist Ausdruck einer fehlenden Selbstliebe.
Wohin führt diese Einstellung?
Sie führt dazu, dass Menschen innerlich in Anspannung leben, immer mit dem Gefühl: Ich bin noch nicht gut genug. Sie gönnen ihrem Körper keine Ruhepausen. Am Umgang mit unserem Körper zeigt sich, ob wir uns selbst lieben. Leider hat eine Studie gezeigt, dass 91 Prozent der deutschen Frauen ihren Körper ablehnen.
Was ist die Folge?
Wir fordern immer mehr von uns, strengen uns immer mehr an – weil wir für unsere Leistung anerkannt werden wollen und das mit Liebe verwechseln. Das kann in eine Erschöpfungsdepression umschlagen, einen Prozess von Enttäuschung, Resignation und Antriebslosigkeit. Oder aber in eine Flucht in Suchtmittel oder virtuelle Welten.
Was wäre hier der gesündere Weg?
Ich muss lernen, dass ich um meiner selbst willen okay bin. So wie ich bin, mit meinen Möglichkeiten und Grenzen. Ich akzeptiere mich und messe mich nicht mit anderen oder an einem gesellschaftlich vorgegebenen Ideal. Ich lasse mir nicht einreden, ich sei zu dick, zu klein, zu groß oder hätte zu dünne Haare, sondern erkenne, dass mein Körper ein Wunderwerk ist, in dem das Herz im Lauf des Lebens zwei Milliarden mal schlägt und die Blutgefäße aneinandergereiht zweimal um die Erde reichen würden.
Spiegelt sich das auch in der Ernährung wider?
Ja, ein gesunder, selbstliebender Erwachsener weiß, was er braucht – es soll gesund und frisch sein. Nicht übertreiben, aber sich auch nicht kasteien. Es geht eben nicht darum, zu essen, um einen Mangel an Liebe zu kompensieren, sich zu beruhigen oder sich sich zu trösten. Der sprichwörtliche Kummerspeck kommt daher.
Sich selbst lieben ist leicht gesagt – aber das fällt vielen in extremen Situationen von Krankheit und Leid schwer.
Der Umgang mit schmerz- und leidvollen Situationen zeigt den Unterschied: Ein Mensch, der sich nicht selbst liebt, verurteilt sich selbst oder betrachtet sich als Opfer der anderen und bemitleidet sich. Ein selbstliebender Mensch sagt sich: Leid und Schmerz gehören zum Leben. Möge ich in diesem Moment freundlich und wohlwollend mit mir sein. Das ist schon in der Kindheit so: Ein Kind, das vom Rad fällt und die Hose zerreißt, braucht eine Mutter, die es tröstet und nicht schimpft.
Uns wird die Selbstliebe also schon in der Kindheit ausgetrieben?
Warum wir uns als Erwachsene so schwer tun, uns gesund selbst zu lieben, ist, dass wir in der Kindheit oft nicht für unser So-sein bedingungslos angenommen wurden, sondern erzogen, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Kindergartenkinder werden laut Studien viermal öfter kritisiert als gelobt. Unsere Muttersprache ist nicht Lob sondern Kritik. Sei angepasst, sei perfekt, später: halte die Fassade aufrecht, hab ein tolles Haus, ein Auto, einen Job. Aber das ist nur ein Ersatz für Selbstliebe, denn in uns drinnen wächst der Selbstzweifel.
Wie aus dieser Spirale ausbrechen?
Es ist ein lebenslanger Weg des Sichselbst-Bewusstwerdens, denn die alten Muster begegnen uns immer wieder. Stellen wir uns das Gehirn wie eine Landschaft vor: Die schädlichen Gedankenmuster sind wie eingefahrene Autobahnen. Wir können immer neue Wege der Selbstliebe gehen, Trampelpfade entstehen lassen, freundlicher, wohlwollender, liebevoller mit uns umzugehen, zu einem glücklicheren, friedvolleren, leichteren und gesünderen Leben finden. Aber die alten Autobahnen werden bleiben. Die Entscheidung ist immer wieder neu: Nehme ich die Autobahn oder den Trampelpfad? Der Vortrag in der Bopfinger Schranne beginnt am Freitag, 29. September, um 19.30 Uhr. Der Eintritt ist frei.