„50 Prozent der Heimbewohner sind von Sedierungen und Fixierungen betroffen“
Im Interview erklärt Pflegeheim-Leiterin Anke Franke, dass die meisten Pflegeeinrichtungen nicht für die Unterbringung von Demenzkranken geschaffen sind
LINDAU - Wer zu Hause einen demenzkranken Menschen pflegt, steht oft unter enormer Belastung. In vielen Fällen bietet sich deshalb eine professionelle Pflegeeinrichtung als Alternative an. Doch viele Heime sind nicht für Demenzkranke konzipiert. Anke Franke leitet das Altenund Pflegeheim Maria-Martha-Stift in Lindau und beschäftigt sich intensiv mit der Unterbringung von Demenzkranken. Lilia Ben Amor hat mit ihr über ein würdiges Leben mit Demenz gesprochen.
Frau Franke, wie oft kann meine Mutter ihren Schlüssel verlegen, bis ich mir Sorgen über Demenz machen muss?
Erstmal müssen Sie das Verhalten beobachten. Wenn es tatsächlich zu einer Häufung kommt, dann können Sie einen Arzt befragen. Es gibt noch weitere Faktoren, zum Beispiel wie alt sie ist oder ob ihre Mutter die gleichen Geschichten immer wieder erzählt. Wenn man nur ab und zu den Schlüssel verlegt, ist das normal.
Wie kann man den Alltag trotz Demenz lebenswert gestalten?
Uns ist wichtig, dass Normalität gelebt wird. Wir behandeln die Menschen nicht, als wäre ihre Krankheit etwas furchtbar Schlimmes. Das Mittagessen zubereiten, Wäsche waschen, Bügeln bei den Frauen und mit den Männern Gartenarbeit – ihnen sind viele Tätigkeiten noch vertraut und wenn man eine gewisse Unterstützung und Anleitung gibt, dann funktioniert sehr vieles noch. Man muss nur Geduld haben und wertschätzend mit ihnen umgehen.
Wie lange können die Betroffenen zu Hause wohnen bleiben?
Das ist unterschiedlich. Jeder Mensch ist anders und jede Demenz verläuft anders. Lebt jemand beispielsweise bei den Kindern und es kümmert sich jemand um ihn, dann ist es länger möglich, denjenigen zu Hause zu betreuen. Anders ist es, wenn jemand allein in seiner Wohnung lebt. Was wir oft erleben, ist, dass Menschen ein schlechtes Gewissen haben, Angehörige in professionelle Hände zu geben. Diese Menschen opfern sich auf und gehen bis an die Belastungsgrenze. Dann ist dem Kranken aber nicht geholfen, wenn sie nicht mehr können und vielleicht zusammenbrechen. Besser ist, denjenigen in professionelle Hände zu geben. Natürlich muss man schauen, dass es auch eine gute Einrichtung ist, das ist nicht ganz einfach. Da sollte man sich im Vorfeld informieren, hingehen, mit den Mitarbeitern und Bewohnern sprechen. Und wenn die Entscheidung getroffen ist, kann man sich sicher sein, dass derjenige versorgt und in guten Händen ist. Dann kann man Kraft tanken, mal in Ruhe zum Friseur oder zum Einkaufen gehen, ohne die Angst zu haben, dass zu Hause etwas passiert. Die Defizite, die zu Hause zur täglichen Herausforderung wurden, stehen nicht mehr im Vordergrund, sondern sind dann Sache der Profis. Man kann sich auf die schönen Dinge konzentrieren, zum Beispiel gemeinsam Fotoalben ansehen, spazieren oder tanzen gehen.
In vielen Altersheimen werden Demente mit Beruhigungsmitteln oder sogar Fesseln an Ort und Stelle gehalten.
Freiheitsentziehende Maßnahmen müssen eigentlich richterlich genehmigt werden, aber es gibt eine hohe Dunkelziffer, das stimmt schon. Menschen mit Demenz benötigen häufig eine 1:1 Betreuung, diese können Pflegeeinrichtungen aber nicht gewährleisten. In ihrer Hilflosigkeit greifen Mitarbeiter dann zu Beruhigungsmitteln oder lassen sie vom Arzt verschreiben. Wenn man verschiedene Studien liest, muss man davon ausgehen, dass 50 Prozent der Heimbewohner von Sedierungen und Fixierungen betroffen sind. Und meistens trifft es eben die Menschen mit Demenz, weil Heime nicht für dieses Krankheitsbild geschaffen sind.
Inwiefern sind Heime nicht für Demenzkranke geschaffen?
Zum Beispiel sind die Wohngruppen zu groß. Zu viele Menschen auf kleinem Raum bedeutet Stress für die Betroffenen. Wenn die Bewohner noch einen starken Bewegungsdrang haben, wollen sie mit einer Selbstverständlichkeit in die Stadt gehen. Aus Sorge greifen die Einrichtungen dann zu freiheitseinschränkenden Mitteln. Freiheit ist das höchste Gut und dem Menschen sollte man ein Umfeld schaffen, in dem er sich frei bewegen kann. Die meisten Pflegeeinrichtungen sind aber offen und es passiert oft, dass jemand unbemerkt das Haus verlässt, auch trotz wunderbarer Beschäftigungsangebote. Man kann die Bewohner nicht rund um die Uhr beschäftigen und den Einzelnen im Blick haben. Kaum wenden sich Pfleger anderen zu, gelangt jemand unbemerkt nach draußen und bringt sich möglicherweise in Gefahr. Das ist ein großes Problem. Wir hatten mal den Fall, dass eine Bewohnerin unter den Schranken durch auf die Gleise gegangen ist. Das war für uns ein Schlüsselerlebnis. Wir mussten sie dann in eine geschlossene Einrichtung übergeben.
Was für Alternativen gibt es für demente Menschen?
Es werden vielfältige Angebote für Menschen mit Demenz benötigt. Grundsätzlich muss die Betreuung in wesentlich kleineren Gruppen und in familiärer Atmosphäre stattfinden. Wir arbeiten an einem Pilotprojekt „Hergensweiler Heimelig“, das wir für Menschen mit Demenz und Weglauftendenz errichten wollen. Für diese gibt es bisher in Deutschland keine geeignete Unterbringungsform. Auch wenn die Bewohner in anderen Heimen nicht gefesselt werden, so werden andere Möglichkeiten genutzt, um ihnen ihre Freiheit zu rauben: Es werden Türcodes eingerichtet oder die Mitarbeiter verstecken die Straßenschuhe der Betroffenen. Aufzugstüren werden mit Postern beklebt, so dass diese wie ein Bücherregal wirken. Sedierungen und Freiheitsentziehung werden als Standardmittel verwendet. Das wird in Deutschland bisher akzeptiert.
Was muss sich ändern?
Ich würde mir wünschen, dass ein Aufschrei durch die Bevölkerung geht und dass Lösungen eingefordert werden. Denn es gibt innovative Konzepte, die auf ihre Umsetzung warten. Ein Besuch des Vorzeigeprojekts „De Hogeweyk“in den Niederlanden hat uns auf die Idee zu „Hergensweiler Heimelig“gebracht. In der Nähe von Amsterdam leben auf einem riesigen Areal jeweils sechs Menschen in kleinen Häusern zusammen und werden hier von einer Betreuungsperson versorgt. Man hat nicht das Gefühl, man wäre auf einem abgeschlossenen Gelände. Die Bewohner können frei vor die Tür gehen und ihren Bewegungsdrang ausleben. In Hergensweiler bei Lindau stehen uns sogar 30 000 Quadratmeter zur Verfügung. Menschen mit Demenz haben keine große Lobby, weil sie sich selbst nicht mehr wehren können. Aber wir werden kämpfen, damit dieser und andere innovative Ansätze zur Umsetzung kommen und ältere Menschen nicht mehr eingesperrt werden müssen.