Nicht mehr nur das Nesthäkchen
Shorttrackerin Anna Seidel erwartet in Südkorea mehr von sich
PYEONGCHANG (SID) - Die Erinnerungen an das erste große OlympiaAbenteuer sind bei Anna Seidel noch immer lebendig. „Damals war ich die Kleine“, sagt die deutsche Shorttrackerin: „Ich hatte keinen Druck und sollte alles nur genießen.“Die „Kleine“, die 2014 in Sotschi als 15-Jährige alle noch so großen Herausforderungen erstaunlich cool meisterte, existiert nur noch auf Fotos. Vor ihren zweiten Olympischen Winterspielen ist Seidel gereift – und längst in eine neue Rolle gewachsen.
Anna Seidel ist in Deutschland Aushängeschild, Hoffnungsträgerin und die talentierteste Athletin ihrer Nischensportart geworden. Die Ansprüche sind gestiegen, ihr Selbstbewusstsein auch. „Ich erwarte auch von mir selber mehr, ich will in Pyeongchang nicht nur dabei sein.“
Heute geht Seidel in den Vorläufen über 500 Meter aufs Eis. Auf ihrer Nebenstrecke scheint der Einzug ins Finale utopisch, doch Shorttrack ist unvorhersehbar. Die Läufe sind schnell, taktisch geprägt und körperbetont. Stürze sind ebenso wie Überraschungen keine Seltenheit. Dennoch bremste Seidel die Erwartungen. „Ich bin erst 19 Jahre alt, zur Weltspitze fehlt doch noch ein Stück.“Eine Medaille sei eher das Ziel für die Winterspiele 2022 in Peking.
Setzt sich Seidels Entwicklung fort, wäre ein Podestplatz in China keine große Überraschung. Seidel hat ein Talent zum Schlittschuhlaufen. Trainingsfleiß und Opferbereitschaft qualifizieren sie zu Höherem. Für den Erfolg hatte Seidel im Juli fast alles hinter sich gelassen: Familie, Freunde, die gewohnte Umgebung. Seidel brach die Zelte in ihrer Heimatstadt Dresden ab und zog ins niederländische Utrecht, um unter Trainerin Wilma Boomstra neue Impulse zu setzen. Nur etwa einmal im Monat kehrte sie nach Sachsen zurück, um sich mit ihren Lehrern auszutauschen und Prüfungen zu schreiben. Im Sommer will Seidel ihr Abitur ablegen.
„Am Anfang war es schon ganz schön hart“, sagte Seidel, die mit der zweiten deutschen Olympia-Starterin Bianca Walter eine Wohngemeinschaft bildete: „Wir waren aufeinander angewiesen. Wir haben zusammen gewohnt, uns ein Auto geteilt. Ich bin froh, dass ich nicht ganz alleine war.“Gelohnt hat sich der Umzug ins Ausland allemal. Das neue Umfeld und die neue Sprache haben Seidel persönlich weitergebracht, im Training unter Boomstra machte sie den nächsten Schritt. „Ich habe mich im mentalen Bereich sehr weiterentwickelt. Es gibt ab und zu noch nicht so gute Phasen, aber dann ist Wilma gleich zur Stelle und baut einen wieder auf“, sagte Seidel.
Wenn auch das nicht half, stützte sie Walter. Gemeinsam starten sie in Südkorea, wo Shorttrack eine Art Volkssportart ist, auf allen drei Einzelstrecken – und drücken sich gegenseitig die Daumen. „Anna ist im Rennen noch besser als im Training. Da kommt bei ihr die Wettkampfsau durch“, sagt Walter: „Sie ist klein, aber oho.“