Die Zukunft selber bauen
Das Pharmaunternehmen Boehringer muss nach der Übernahme von Merial Luft holen und setzt auf die eigene Pipeline
INGELHEIM - Jedes Jahr erleiden rund 270 000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Rund 40 Prozent der Betroffenen sterben noch im ersten Jahr danach; der Schlaganfall ist der häufigste Grund für Behinderungen im Erwachsenenalter. Die plötzlich auftretende Erkrankung des Gehirns, die durch Störungen in der Blutversorgung verursacht wird, treibt den Pharmakonzern Boehringer schon Jahrzehnte um. Seit mehreren Dekaden engagiert sich das 1885 in Ingelheim bei Mainz gegründete Familienunternehmen in der Prävention und Behandlung von Schlaganfällen. Aus diesem Engagement sind Medikamente wie der Blutgerinnungshemmer Pradaxa hervorgegangen, der zur Verhinderung von Schlaganfällen eingesetzt wird, oder Actilyse, ein Medikament, das das Todesfallrisiko nach einem Schlaganfall senkt.
Das Thema beschäftigt Boehringer aber auch über die reine Entwicklung von Medikamenten hinaus. „Bei einem Schlaganfall ist es entscheidend, einen Patienten möglichst schnell zu behandeln“, sagt Hubertus von Baumbach, Vorstandschef des Familienunternehmens, auf der Bilanzpressekonferenz am Mittwoch am Stammsitz in Ingelheim. Irreparable Schäden des Gehirns würden neuesten Erkenntnissen zufolge nach vier bis fünf Stunden eintreten. „Deshalb zählt jede Sekunde, und deshalb sind wir in die Krankenhäuser gegangen, und haben uns die Abläufe bei der Schlaganfallversorgung angesehen.“
Ziel ist es, die sogenannte Door-toNeedle-Time zu verkürzen – also die Zeit, die zwischen der Einlieferung der Schlaganfallpatienten im Krankenhaus bis zur Verabreichung der entsprechenden Medikamente verstreicht. Und deshalb helfe Boehringer allein in Europa 1500 Schlaganfallzentren, ihre Abläufe zu optimieren, erklärte von Baumbach.
Verlust durch Sondereffekte
Mit solchen Aktivitäten unterstützt Boehringer sein Kerngeschäft der Entwicklung und Vermarktung von Medikamenten. Das präsentierte sich 2017 im Vergleich zum Vorjahr erwartungsgemäß stark. Boehringer erwirtschaftete Erlöse von 18,1 Milliarden Euro, was währungsbereinigt einem Anstieg von 15,7 Prozent entspricht. Das Betriebsergebnis legte um rund 20 Prozent auf 3,5 Milliarden Euro zu. Unter dem Strich musste das Unternehmen für 2017 aber einen Verlust von 223 Millionen Euro ausweisen, nachdem 2016 noch 1,9 Milliarden Euro verdient wurde – eine „neue Erfahrung“wie von Baumbach eingestand.
Allerdings taugt der Vergleich mit dem Vorjahr in diesem Punkt nicht. Boehringer hatte 2016 bekannt gegeben, die Tiergesundheitssparte von Sanofi (Merial) zu übernehmen und im Gegenzug das Geschäft mit rezeptfreien Medikamenten an den französischen Wettbewerber abzugeben. Durch diesen Tausch, der 2017 abgeschlossen wurde, fielen einmalig Steuern in Höhe von 1,3 Milliarden Euro an. Hinzu kamen weitere Sonderbelastungen durch die US-Steuerreform im Volumen von 580 Millionen Euro. 2018, versprach von Baumbach, „werden wir wieder die gewohnten Zahlen beim Jahresüberschuss sehen“.
Gleichwohl kündigte BoehringerChef von Baumbach eine etwas langsamere Gangart an. Größere Übernahmen schloss er für absehbare Zeit aus: „Ich glaube nicht, dass wir unsere Zukunft kaufen können. Wir müssen sie selber bauen.“Deshalb sei für 2018 auf vergleichbarer Basis lediglich „von einem leichten Wachstum der Umsatzerlöse auszugehen“. Da die Wachstumssprünge 2017 vor allem aus der Übernahme von Merial resultieren, verwundert diese Prognose nicht. Überhaupt seien Zahlen sowieso „nur mittelbarer Gradmesser für das, was uns bewegt“, sagte von Baumbach. Boehringer gehe es darum, Medikamente zu entwickeln, die Menschen und Tieren das Leben verbesserten. Und wenn sich da Chancen böten, stünde die Profitabilität kurzfristig schon mal hintenan.
Gut gefüllte Pipeline
Vor allem im Bereich Humanpharmazeutika, der für 70 Prozent der Umsatzerlöse steht, hatte Boehringer zuletzt Erfolge gefeiert. 2017 war mit 13 neuen Wirkstoffen nicht nur ein Rekordjahr bei klinischen Erstanwendungsstudien am Menschen, auch die bereits zugelassenen Medikamente haben sich erfreulich entwickelt. Sechs Präparate – darunter das Atemwegspräparat Spiriva und eben Pradaxa – spülten Boehringer jeweils mehr als eine Milliarde US-Dollar in die Kassen.
Für die Zukunft sieht von Baumbach das Unternehmen gut aufgestellt. Mehr als 80 Entwicklungsprojekte, die insbesondere auf Erkrankungen des zentralen Nervensystems sowie auf Krankheiten im Bereich Onkologie zielen, seien in der Pipeline. „65 Prozent dieser Projekte haben das Potenzial für einen therapeutischen Durchbruch oder als erster Wirkstoff einer neuen Klasse zu gelten“, ergänzte Entwicklungsvorstand Michel Pairet. Bis 2025 sollen aus dieser Pipeline 15 neue Medikamente auf den Markt gebracht werden.
Dafür muss Boehringer viel Geld in die Hand nehmen. Im vergangenen Jahr lagen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei „mehr als drei Milliarden Euro“(2016: 3,1 Milliarden Euro). Ein Teil dieser Gelder ist nach Biberach geflossen, wo das Unternehmen mit gut 6000 Mitarbeitern den bedeutendsten Forschungsund Entwicklungsstandort im Konzern unterhält. Erst im Oktober 2017 hatte Boehringer bekannt gegeben, dort 200 Millionen Euro in ein neues Zentrum für die Entwicklung biologischer Wirkstoffe investieren zu wollen. Die feierliche Grundsteinlegung dafür findet am 22. Mai statt.