Ellwangen hat eine Zeitmaschine
Es gibt noch Kaugummiautomaten – In der Mechanik steckt Nostalgie
ELLWANGEN - Für 20 Cent bringt eine ratternde 360-Grad-Umdrehung die Kindheit zurück. So klang das früher am Kaugummiautomaten, und so klingt es heute. Es gibt noch einen in Ellwangen, er hängt beim Kino in der Karlstraße und sieht nach Vergangenheit aus, nach den Zeiten, als man zum Spielen mit den Nachbarskindern auf die Straße ging.
Damals reichten zehn Pfennige fürs Herzklopfen. Es klackerte im Schacht, und dann war’s doch nicht der goldene Ring, sondern einer der kugelrunden Kaugummis, die man erst weichlutschen musste. Die gelben schmeckten am besten. Heute legt der Automat ein Plastikei, in dem ein Plastikpäckchen steckt. Dass ein extrasaurer „Taser“drin ist, stand bereits auf dem vergilbten Schild überm Schacht. Klebrig ist er trotzdem. Ob sich Kinder heute noch dafür begeistern?
„Es ist nicht mehr wie früher. Das Interesse ist nicht mehr da“
„Es ist nicht mehr wie früher. Das Interesse ist nicht mehr da“, sagt Bäckermeister Hubert Haaf. An seiner Bäckerei gegenüber dem Palais Adelmann hängen schon seit zehn, ach was, 15 Jahren keine Automaten mehr. „Früher kamen die Kinder aus der Nachbarschaft“, erinnert sich Fachverkäuferin Xenia Kerber. „Am liebsten haben sie am Spielzeugautomaten gedreht, da kamen Figürchen raus und diese kleinen Ringe.“Dietmar Kuhn, der neben ihr steht, bekommt genauso leuchtende Augen wie sie. „Ich habe mir immer was rausgelassen“, erzählt er. „Aber heute hat keiner mehr ein Zehnerle im Sack, deshalb gibt’s auch keine Automaten mehr.“
Für Ellwangen stimmt das irgendwie. Nicht nur an der Bäckerei Haaf sind die mechanischen Metallkästen verschwunden. „In der Marienstraße an der Ecke zur Adelbergergasse war einer, am Bahnhof, im Goldrain und bei der Kaserne“, zählt der städtische Pressesprecher Anselm Grupp auf. Da habe es früher eine Barackensiedlung und einen Edekamarkt gegeben, „da mussten wir Kinder zum Einkaufen hin, und dann haben wir uns was rausgelassen, am liebsten am gelben Pez-Automat.“Weitere Kaugummiautomaten sind mit den Kiosken an der Wolfgangstraße und bei der Tanzschule verschwunden. Auch an der Haller Straße bei der Abzweigung zum Malteser Hilfsdienst sucht man inzwischen umsonst, und im Mittelhof an der Ecke Lessing- und Schillerstraße ist der einzige Automat jetzt einer für Zigaretten.
„Die Kaugummiautomaten sind weniger geworden, weil die Aufsteller ökonomisch denken müssen“, bedauert Paul Brühl. Er ist der Geschäftsführer des Verbands Automaten-Fachaufsteller (VAFA) mit Sitz im rheinländischen Langenfeld, und ein Aufsteller ist ein Mensch, der Automaten aufstellt und betreut. „Ein hartes Brot“, weiß Brühl. Zwischen 500 und 3000 Automaten muss ein Aufsteller haben, um finanziell über die Runden zu kommen. Jeder Verkaufsbehälter bringt ihm zwischen 20 und 100 Euro Umsatz im Jahr, jeden muss er regelmäßig reinigen und neu befüllen. Dafür fährt er Touren von bis zu 700 Kilometern von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, das ganze Jahr über. Er muss sich über immer mehr Vandalismus und Diebstahl ärgern und findet immer weniger Wände, an denen er seine Ein-, Zwei- oder Dreischächter aufhängen kann. „Sobald ein Hauseigentümer eine Wärmedämmung macht, geht da nichts mehr dran“, sagt Brühl. Auch die Kioske und kleinen Läden, zu denen die rot-weißen Metallkästen so gut passen, werden seltener. Dennoch, vermutet er, gebe es deutschlandweit noch mehrere Hunderttausend. Genaue Zahlen kenne niemand, da Kaugummiautomaten nicht meldepflichtig sind.
Dass es zur Hochzeit der Kaugummiautomaten ab den 50er- bis in die 70er-Jahre hinein mehr waren, ist gewiss: bis zu 900 000 in der Bundesrepublik, so Brühl. Die Amerikaner hatten sie nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit dem Chewing Gum ins Land gebracht. Dabei war es Jahrzehnte zuvor umgekehrt gewesen. 1887 hatten der Ingenieur Max Sielaff und der Erfinder Theodor Bergmann für den Kölner Schokoladenfabrikanten Ludwig Stollwerck die ersten Süßwarenautomaten für Schokoladentäfelchen und Bonbons entwickelt. 1894 standen 4000 Stück alleine in New York, 15 000 waren es in Deutschland. Erst die „Katastrophe der Nazizeit“, so Brühl, bereitete dem Selbstbedienungs-Boom ein Ende: „Es wurden alle Automaten entfernt bis auf die für Kondome – wegen der Volkshygiene“, sagt der Geschäftsführer kopfschüttelnd. Erst ab der Wirtschaftswunderzeit kamen die Kinder wieder auf ihre Kosten.
So ein Kaugummiautomat war wie ein Tresor. „Man hat versucht geschickt so zu drehen, dass zwei Kaugummis rausgefallen sind, wenn die Klappe aufging“, schmunzelt Anselm Grupp. „Man hat gerüttelt oder gegen den Kasten geklopft. Manchmal hat es sogar geklappt.“Aber welcher Reiz liegt heute noch darin, eine einfache Mechanik zu überlisten, wenn anderswo komplexe virtuelle Welten auf Eroberung warten? „Die sitzen doch heute alle bloß noch vor der Kiste, vor Computer und Internet“, winkt Bäcker Haaf ab. „Die Kinder gehen nicht mehr raus. Ein Fluch ist das.“
Nach 50 Umdrehungen: Ein Ring – und 49 Kaugummis
„Wir haben das sogar als Jugendliche noch gern gemacht“, erzählt Anselm Grupp. Einmal, lacht er, wechselten er und seine Freunde ganze fünf Mark in lauter Zehnpfennigmünzen. „Wir brauchten zwei Ringe, weil wir eine Eheschließung inszenieren wollten“, verrät er. Nach 50 Umdrehungen hatten sie genau einen Ring – und 49 Kaugummis. „Da haben wir den zweiten Ring aus Stanniolpapier gebastelt.“
Und heute? Geschäftsführer Brühl glaubt an die Zukunft der Kaugummiautomaten. Mehr Schächte, neue Produkte ... Bis dahin verkauft der Kasten mit jeder 360-Grad-Umdrehung wohl eher ein Stückchen Nostalgie an die Kinder der 50er- und 60er-Jahre. Doch manchmal lassen sich sogar die des 21. Jahrhunderts begeistern. Zwei Mädchen, die eben die Karlstraße hinaufgehen, packt jedenfalls die Neugier. 50 Cent und eine ratternde 360-Grad-Umdrehung bescheren ihnen einen Moment echtes Kindsein. Aus dem Schacht neben den Kaugummis kommen Gimmicks aus dehnbarem Gummi. Die finden sie zum Schießen.