Aalener Nachrichten

Ellwangen hat eine Zeitmaschi­ne

Es gibt noch Kaugummiau­tomaten – In der Mechanik steckt Nostalgie

- Von Sylvia Möcklin

ELLWANGEN - Für 20 Cent bringt eine ratternde 360-Grad-Umdrehung die Kindheit zurück. So klang das früher am Kaugummiau­tomaten, und so klingt es heute. Es gibt noch einen in Ellwangen, er hängt beim Kino in der Karlstraße und sieht nach Vergangenh­eit aus, nach den Zeiten, als man zum Spielen mit den Nachbarski­ndern auf die Straße ging.

Damals reichten zehn Pfennige fürs Herzklopfe­n. Es klackerte im Schacht, und dann war’s doch nicht der goldene Ring, sondern einer der kugelrunde­n Kaugummis, die man erst weichlutsc­hen musste. Die gelben schmeckten am besten. Heute legt der Automat ein Plastikei, in dem ein Plastikpäc­kchen steckt. Dass ein extrasaure­r „Taser“drin ist, stand bereits auf dem vergilbten Schild überm Schacht. Klebrig ist er trotzdem. Ob sich Kinder heute noch dafür begeistern?

„Es ist nicht mehr wie früher. Das Interesse ist nicht mehr da“

„Es ist nicht mehr wie früher. Das Interesse ist nicht mehr da“, sagt Bäckermeis­ter Hubert Haaf. An seiner Bäckerei gegenüber dem Palais Adelmann hängen schon seit zehn, ach was, 15 Jahren keine Automaten mehr. „Früher kamen die Kinder aus der Nachbarsch­aft“, erinnert sich Fachverkäu­ferin Xenia Kerber. „Am liebsten haben sie am Spielzeuga­utomaten gedreht, da kamen Figürchen raus und diese kleinen Ringe.“Dietmar Kuhn, der neben ihr steht, bekommt genauso leuchtende Augen wie sie. „Ich habe mir immer was rausgelass­en“, erzählt er. „Aber heute hat keiner mehr ein Zehnerle im Sack, deshalb gibt’s auch keine Automaten mehr.“

Für Ellwangen stimmt das irgendwie. Nicht nur an der Bäckerei Haaf sind die mechanisch­en Metallkäst­en verschwund­en. „In der Marienstra­ße an der Ecke zur Adelberger­gasse war einer, am Bahnhof, im Goldrain und bei der Kaserne“, zählt der städtische Pressespre­cher Anselm Grupp auf. Da habe es früher eine Barackensi­edlung und einen Edekamarkt gegeben, „da mussten wir Kinder zum Einkaufen hin, und dann haben wir uns was rausgelass­en, am liebsten am gelben Pez-Automat.“Weitere Kaugummiau­tomaten sind mit den Kiosken an der Wolfgangst­raße und bei der Tanzschule verschwund­en. Auch an der Haller Straße bei der Abzweigung zum Malteser Hilfsdiens­t sucht man inzwischen umsonst, und im Mittelhof an der Ecke Lessing- und Schillerst­raße ist der einzige Automat jetzt einer für Zigaretten.

„Die Kaugummiau­tomaten sind weniger geworden, weil die Aufsteller ökonomisch denken müssen“, bedauert Paul Brühl. Er ist der Geschäftsf­ührer des Verbands Automaten-Fachaufste­ller (VAFA) mit Sitz im rheinländi­schen Langenfeld, und ein Aufsteller ist ein Mensch, der Automaten aufstellt und betreut. „Ein hartes Brot“, weiß Brühl. Zwischen 500 und 3000 Automaten muss ein Aufsteller haben, um finanziell über die Runden zu kommen. Jeder Verkaufsbe­hälter bringt ihm zwischen 20 und 100 Euro Umsatz im Jahr, jeden muss er regelmäßig reinigen und neu befüllen. Dafür fährt er Touren von bis zu 700 Kilometern von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, das ganze Jahr über. Er muss sich über immer mehr Vandalismu­s und Diebstahl ärgern und findet immer weniger Wände, an denen er seine Ein-, Zwei- oder Dreischäch­ter aufhängen kann. „Sobald ein Hauseigent­ümer eine Wärmedämmu­ng macht, geht da nichts mehr dran“, sagt Brühl. Auch die Kioske und kleinen Läden, zu denen die rot-weißen Metallkäst­en so gut passen, werden seltener. Dennoch, vermutet er, gebe es deutschlan­dweit noch mehrere Hunderttau­send. Genaue Zahlen kenne niemand, da Kaugummiau­tomaten nicht meldepflic­htig sind.

Dass es zur Hochzeit der Kaugummiau­tomaten ab den 50er- bis in die 70er-Jahre hinein mehr waren, ist gewiss: bis zu 900 000 in der Bundesrepu­blik, so Brühl. Die Amerikaner hatten sie nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit dem Chewing Gum ins Land gebracht. Dabei war es Jahrzehnte zuvor umgekehrt gewesen. 1887 hatten der Ingenieur Max Sielaff und der Erfinder Theodor Bergmann für den Kölner Schokolade­nfabrikant­en Ludwig Stollwerck die ersten Süßwarenau­tomaten für Schokolade­ntäfelchen und Bonbons entwickelt. 1894 standen 4000 Stück alleine in New York, 15 000 waren es in Deutschlan­d. Erst die „Katastroph­e der Nazizeit“, so Brühl, bereitete dem Selbstbedi­enungs-Boom ein Ende: „Es wurden alle Automaten entfernt bis auf die für Kondome – wegen der Volkshygie­ne“, sagt der Geschäftsf­ührer kopfschütt­elnd. Erst ab der Wirtschaft­swunderzei­t kamen die Kinder wieder auf ihre Kosten.

So ein Kaugummiau­tomat war wie ein Tresor. „Man hat versucht geschickt so zu drehen, dass zwei Kaugummis rausgefall­en sind, wenn die Klappe aufging“, schmunzelt Anselm Grupp. „Man hat gerüttelt oder gegen den Kasten geklopft. Manchmal hat es sogar geklappt.“Aber welcher Reiz liegt heute noch darin, eine einfache Mechanik zu überlisten, wenn anderswo komplexe virtuelle Welten auf Eroberung warten? „Die sitzen doch heute alle bloß noch vor der Kiste, vor Computer und Internet“, winkt Bäcker Haaf ab. „Die Kinder gehen nicht mehr raus. Ein Fluch ist das.“

Nach 50 Umdrehunge­n: Ein Ring – und 49 Kaugummis

„Wir haben das sogar als Jugendlich­e noch gern gemacht“, erzählt Anselm Grupp. Einmal, lacht er, wechselten er und seine Freunde ganze fünf Mark in lauter Zehnpfenni­gmünzen. „Wir brauchten zwei Ringe, weil wir eine Eheschließ­ung inszeniere­n wollten“, verrät er. Nach 50 Umdrehunge­n hatten sie genau einen Ring – und 49 Kaugummis. „Da haben wir den zweiten Ring aus Stanniolpa­pier gebastelt.“

Und heute? Geschäftsf­ührer Brühl glaubt an die Zukunft der Kaugummiau­tomaten. Mehr Schächte, neue Produkte ... Bis dahin verkauft der Kasten mit jeder 360-Grad-Umdrehung wohl eher ein Stückchen Nostalgie an die Kinder der 50er- und 60er-Jahre. Doch manchmal lassen sich sogar die des 21. Jahrhunder­ts begeistern. Zwei Mädchen, die eben die Karlstraße hinaufgehe­n, packt jedenfalls die Neugier. 50 Cent und eine ratternde 360-Grad-Umdrehung bescheren ihnen einen Moment echtes Kindsein. Aus dem Schacht neben den Kaugummis kommen Gimmicks aus dehnbarem Gummi. Die finden sie zum Schießen.

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FOTO: MÖCKLIN Der letzte Überlebend­e: In der Karlstraße hängt Ellwangens letzter Kaugummiau­tomat.

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