Kinderschutzexperte fordert unabhängige Untersuchung
Professor Jörg Fegert über den Missbrauchsfall von Staufen und dessen Konsequenzen
STUTTGART (tja) - Der Staufener Missbrauchsskandal sollte laut Kinderschutzexperte Jörg Fegert genauer untersucht werden. „Ich würde mir wünschen, dass eine unabhängige Expertenkommission den Fall aufarbeitet und zum Anlass nimmt, sich die Probleme grundsätzlich anzuschauen“, sagte der Ärztliche Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm der „Schwäbischen Zeitung“. Er verweist auf Großbritannien. „Dort haben Expertenkommissionen die Aufarbeitungen der Skandale übernommen, mit eigener Geschäftsstelle und unabhängig von der Landesregierung.“In Staufen hatte ein Paar einen Jungen mehr als zwei Jahre vergewaltigt und zum sexuellen Missbrauch angeboten.
STUTTGART - Ein Junge wird jahrelang von Mutter und Stiefvater missbraucht, an Vergewaltiger vermietet. Der Ärztliche Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, Jörg Fegert, plädiert im Gespräch mit Katja Korf für eine Untersuchung des Vorfalls durch eine unabhängige Kommission. Und er sagt, warum er sich nun für die Vorratsdatenspeicherung ausspricht.
Herr Fegert, ist Staufen ein schrecklicher Einzelfall? Wie kann das gehen?
Nein, er ist nur die kleine Spitze eines großen Eisbergs, die jetzt mediale Aufmerksamkeit erfährt und gesellschaftliche Debatten auslöst. Wir wissen heute, dass zehn Prozent aller heute jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit missbraucht wurden.
In dem Fall gab es offenbar Versäumnisse bei Jugendämtern, Familiengerichten und anderen Behörden. Sollten Jugendämter im Land besser kontrolliert werden?
Zunächst einmal halte ich wenig von Schnellschüssen. Aber es bleibt festzuhalten, dass Jugendämter in Deutschland keine Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen über sich haben. Sie sind den Kommunen zugeordnet und relativ unabhängig. Es ist aber nie gut, wenn Organisationen nicht kontrolliert und beaufsichtigt werden. Allerdings leisten die Sozialarbeiter in den Ämtern eine ganz schwierige Arbeit. Sie wandeln auf einem schmalen Grat: Entweder sie greifen zu früh ein und ernten Kritik, oder sie warten zu lange und ernten ebenfalls Schelte. Um diese Arbeit leisten zu können, muss man die Sozialarbeiter auch dazu in die Lage versetzen. Diese Sozialarbeiter müssen besser bezahlt werden, die Zahl der Fälle, die sie bearbeiten, muss sinken und wir brauchen eine bessere Ausbildung für sie.
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) fordert nach dem Urteil höhere Strafen für Pädokriminelle. Was halten Sie davon?
Meine Empfehlung an die Politik wäre, jetzt zunächst einmal innezuhalten und eine vertiefte Debatte zu führen. Ich bin kein Jurist, aber an Einzelfällen Recht zu bilden und neue Gesetze zu machen, halte ich für wenig sinnvoll.
Außerdem wünscht sich Strobl, dass man die Vorratsdatenspeicherung einführt. Man soll also Verbindungsdaten von Telefonaten oder Internetnutzung speichern, um im Nachhinein gegen Verdächtige ermitteln zu können.
Ich persönlich war da lange skeptisch mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte. Aber auch ich komme ins Zweifeln. Wir bekommen Hinweise auf Pädokriminelle sehr oft aus dem Ausland. Dort werden IPAdressen beim Surfen im Internet gespeichert und die Provider müssen es melden, wenn Nutzer auf bestimmten Seiten surfen. Da müssen wir schon eine Debatte führen, ob wir das nicht auch brauchen.
Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) hat versprochen, dass der Fall aufgearbeitet wird. Dazu gibt es eine interministerielle Arbeitsgruppe. Reicht das aus?
Ich würde mir wünschen, dass eine unabhängige Expertenkommission den Fall aufarbeitet und zum Anlass nimmt, sich die Probleme grundsätzlich anzuschauen. So wie in Großbritannien. Dort haben Expertenkommissionen die Aufarbeitungen der Skandale übernommen, mit eigener Geschäftsstelle und unabhängig von der Landesregierung. Wir haben das hier im Land nach dem Amoklauf von Winnenden erfolgreich gemacht. Natürlich muss untersucht werden, ob es einzelne Schuldige gibt. Aber entscheidender ist, die Schwierigkeiten grundlegender zu erkennen und anzugehen.
Was stellen Sie sich da vor?
Zunächst einmal müssen alle Beteiligten im Kinderschutz wissen, womit sie es zu tun haben. Der Fall Staufen ist in zwei Instanzen vor Familiengerichten verhandelt worden. Der Junge hatte aber keinen Verfahrensbeistand und wurde nicht angehört. Das sind eklatante Verstöße gegen deutsche und internationale Vorgaben. Jeder Mediziner, jeder Fachanwalt muss sich fortbilden. Ein Familienrichter nicht. Wenn es ums Insolvenzrecht geht, müssen Richter einschlägig fortgebildet sein. Wenn es um das Leben eines Kindes geht, nicht. Mir ist in BadenWürttemberg zum Beispiel keine Fortbildung bekannt, bei der Richter lernen, wie man mit Kindern spricht. Für meinen Geschmack hat Landesjustizminister Guido Wolf da recht schnell öffentlich beteuert, in Baden-Württemberg gäbe es hinrei- chende Aus- und Weiterbildungsangebote.
Ein Kritikpunkt an den Behörden im Fall Staufen ist, dass sie nicht gut zusammengearbeitet hätten. Ist das grundsätzlich ein Problem?
Ja. Es ist ganz wichtig, dass sich die Beteiligten besser vernetzen. Das heißt vor allem: Sie müssen dieselbe Sprache sprechen. Ich kenne Fälle, da gab es hervorragende rechtsmedizinische Gutachten, die Misshandlungen an einem Kind dokumentiert haben. Doch das Gutachten war so fachwissenschaftlich formuliert, dass Richter und Sozialarbeiter es nicht verstanden haben. Ergebnis: Das Kind kam zurück in die Familie und starb später an den Folgen der Misshandlung. Deswegen müssen wir mehr dafür tun, Sozialarbeiter, Richter und Polizei besser fortzubilden.
Der Staufener Junge wurde per Internet vermietet. Macht es das Netz Pädokriminellen einfacher?
Auf jeden Fall. Dem müssen wir uns stärker widmen. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD im Bund ist gefühlt auf jeder dritten Seite das Wort „Digitalisierung“zu finden. Ja, wir müssen die Chancen nutzen. Aber wir müssen wesentlich mehr Geld dafür ausgeben zu erfahren, welche Risiken es mit sich bringt. Kinder und Jugendliche erhalten über das Internet heute ganz andere Bilder von Sexualität als früher. Und Pädokriminelle können anonym über das Internet Kontakt zu Kindern aufnehmen. Wir brauchen medienpädagogische Angebote, um Schülern beizubringen, wie sie sich vor Gefahren des Netzes schützen. Außerdem sehe ich als Psychiater immer mehr Mädchen, die schwerstsuizidgefährdet sind. Ex-Freunde haben Nacktfotos oder Videos von ihnen im Netz verbreitet. Die Opfer denken, dass sie mit dieser Scham nicht weiterleben können. Auf solche Phänomene müssen wir mehr Aufmerksamkeit richten.
Sie fordern, den Blick auf Opfer zu verändern. Was heißt das?
Wir wissen heute, dass man Kindern sehr gut helfen kann. Es gibt wirksame Traumatherapien. Allerdings beherrschen die noch viel zu wenige Therapeuten. Eine Umfrage der Bundestherapeutenkammer hat vor einigen Jahren ergeben, dass ein großer Anteil meiner Kollegen solche Fälle ablehnt, weil sie sich die Behandlung nicht zutrauen. Derzeit geben wir pro Jahr rund elf Milliarden Euro aus, um Spätfolgen von Missbrauch zu lindern. Es macht doch viel mehr Sinn, in frühzeitige Behandlung zu investieren und den Kindern zu helfen, glückliche Erwachsene zu werden, von denen selbst keine Gewalt ausgeht. Wir können etwas für die Opfer tun, da braucht es mehr Optimismus.