Unter Richtern
Derzeit reist eine Delegation chinesischer Juristen durchs Ländle, um von Deutschland zu lernen – und umgekehrt
RAVENSBURG - Und dann steht Zhang Yongjian, einer der höchsten chinesischen Richter überhaupt, auf und fängt plötzlich an zu singen. Vom Rang her ist der Jurist mit einem deutschen Verfassungsrichter vergleichbar. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass in China 1,4 Milliarden Menschen leben und bei uns knapp 83 Millionen. Die anderen Gäste im Wirtshaus Rössle in Weingarten verstummen, auch die Gruppe von Handwerkern auf der Walz in ihrer traditionellen Kluft staunt, als der so fremd klingende Gesang anhebt. Spätestens das ist der Moment, in dem Matthias Grewe, der Direktor des Ravensburger Amtsgerichts, weiß, dass sich die zehn Besucher aus China richtig wohl in Oberschwaben fühlen. Denn einen Abend mit Gesang zu krönen, ist auch bei Chinesen keine Selbstverständlichkeit. So jedenfalls berichtet es Grewe, als er von besagtem Abend erzählt.
Und er muss es wissen, weil er selbst schon im Rahmen des Richtertauschs im Vorjahr in China war. Was Grewe bei der Gesangseinlage des hochrangigen Juristen zunächst nur ahnt, wird bald zur Gewissheit: Wenn einer anfängt zu singen, dann geht es reihum und macht auch vor dem Direktor des Ravensburger Amtsgerichts nicht halt.
Die Konsultation im Rahmen des Richteraustauschs zwischen China und Deutschland steht auf den organisatorischen Beinen der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Die Reise durch Baden-Württemberg hat am 12. September begonnen und wird am 21. zu Ende gehen. Natürlich geht es dabei nicht in erster Linie um Gesang und Geselligkeit, sondern um den inhaltlichen Austausch. Um die Gemeinsamkeiten zweier Rechtssysteme – aber auch um ihre Unterschiede. Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“sagt Zhang Yongjian, Vorsitzender des 4. Zivilsenats, man habe in China bereits viele Dinge aus Deutschland übernommen.
Die Tour durchs Ländle hat viele Stationen: Bosch-Stiftung in Stuttgart, die den Austausch fördert, Oberlandesgericht Stuttgart, Justizministerium, Verwaltungsgericht
„In China gibt es keine Grundbücher, wie wir sie kennen. Grund und Boden gehören immer dem Staat.“
Stuttgart, Workshops, Weinprobe, Stuttgarter Staatsbibliothek, OutletStadt Metzingen, Schifffahrt auf dem Bodensee, Hopfenmuseum Tettnang – das alles und noch viel mehr, stets in Begleitung deutscher Richter, wie etwa Matthias Grewe und Thomas Dörr, dem Präsidenten des Landgerichts Ravensburg. Auch dieser ist am Montagmorgen im Grundbuchamt, wo sich in der Früh die Delegation im nüchternen Konferenzraum einfindet, samt Frau Wu, der routinierten Übersetzerin, die den folgenden Vortrag nebst angeregten Diskussionen sprachlich zusammenhält. Und dabei geht es wieder mehr um die fachlichen als die geselligen Dinge, wie das förmliche Auftreten der Gruppe dokumentiert.
Die Delegation besteht aus drei Frauen und sieben Männern. Die Herren tragen dunkle Anzüge, die Damen ebenfalls Businesskleidung. Dagegen wirkt Matthias Grewe mit seiner grünen Krawatte fast bunt. „Wir haben das Grundbuchamt extra an dieser Stelle gebaut, damit Sie es vom Hotel aus nicht so weit haben“,
Matthias Grewe, Direktor des Amtsgerichts Ravensburg
scherzt Grewe und muss auf die höflichen Lacher erst ein klein wenig warten, weil Frau Wu zunächst ins Chinesische übersetzen muss. Überhaupt wirkt ein Vortrag, der durch das Dolmetschen immer wieder unterbrochen werden muss, ein wenig zähflüssig. Vorteil: Das Gesagte kann ganz anders sacken – und von Diskussionen abhalten lassen sich die chinesischen Richter, die aus den Provinzen Henan und Jang Tsu kommen, auch nicht. Dabei fällt auf, dass die chinesische Sprache laut und für oberschwäbische Ohren fast schon etwas vorwurfsvoll klingt, während Herr Ni und Herr Wang über komplizierte Haftungsfragen im Zusammenhang mit Immobilienregistern debattieren. Auch der Umstand, dass in Deutschland Notare so eine wichtige Rolle spielen, sorgt für Lebendigkeit im ansonsten nüchternen Konferenzraum.
Warum sich Chinesen überhaupt für das deutsche Grundbuchwesen interessieren? „In China gibt es keine Grundbücher, wie wir sie kennen. Grund und Boden gehören immer dem Staat“, erklärt Matthias Grewe später in seinem Büro. Das habe etwa den Vorteil, dass Projekte wie Autobahnen oder Schienentrassen außerordentlich schnell realisiert werden könnten. „In welchem Tempo die Chinesen bauen – das ist atemberaubend“, sagt Grewe. An den chinesischen Gästen der Gruppe schätzt der Amtsgerichtsdirektor ihre offene Art. „Das ist überhaupt nicht steif, und auch der Chef ist nicht dominant, auch wenn jeder genau weiß, wer das Sagen hat.“Obwohl die kulturellen Unterschiede – und auch die Unterschiede in den politischen Systemen – nicht wegzudiskutieren seien, so hätten sich die Gepflogenheiten doch soweit angenähert, dass der Umgang miteinander unkomplizierter werde.
Für die komplizierten Sachen ist Frau Wu zuständig, die unermüdliche Dolmetscherin, die auch beim Rundgang durch das Grundbuchamt ohne Zögern und Stocken alles übersetzt, was ihr an die Ohren gelangt. Unter anderem auch diesen Satz des Delegationsleiters Zhang Yongjian, der wiederum als direktes Kompliment an Frau Wu zu verstehen ist: „Ich war schon öfter in Deutschland, doch diesmal ist der Besuch besonders gelungen. Das mag auch daran liegen, dass die Qualität der Übersetzer damals nicht immer überzeugte.“
„Tatsächlich ist es so, dass bei allem
„Ich war schon öfter in Deutschland, doch diesmal ist der Besuch besonders gelungen.“
gegenseitigen Interesse, das auch aus den Fragen im Austausch klar wird, tiefere Gespräche nicht möglich sind“, sagt Matthias Grewe. Politik – das sei kein Thema im Rahmen eines solchen Richteraustausches. Die meisten Delegationsteilnehmer sprächen kein Englisch. Und trotz der ausgezeichneten Fähigkeiten von Frau Wu ist die Kommunikation in einer gemeinsamen Sprache doch etwas anderes.
Und was nimmt er, Amtsgerichtsdirektor Grewe, vom Besuch der Chinesen mit? „Das Programm lebt vom Austausch – und der ist keine Einbahnstraße.“Beispiel: Angenommen, in einem Verfahren gibt es drei Angeklagte, von denen sich nur einer einen Anwalt leisten kann. Dann stellt der Staat im chinesischen Rechtssystem den anderen beiden ebenfalls je einen Juristen zur Seite. „Das ist bei uns nicht so“, sagt Grewe und findet dieses Prinzip einen interessanten Ansatz, über den man auch bei uns nachdenken könne.
Die chinesische Konsultation am Grundbuchamt Ravensburg geht zu
Zhang Yongjian, Leiter der chinesischen Delegation
Ende. Jetzt steht noch ein Empfang bei Bürgermeister Simon Blümcke an, bevor es für die Delegation wieder weiter geht, etwa ans Landgericht Hechingen, ans Amtsgericht Freudenstadt im Schwarzwald und ans Landgericht Heilbronn, bevor am Freitag der Flieger von Stuttgart aus zurück nach Peking in die Luft steigt.
Ob er einen der Delegierten noch einmal wieder sehen wird, weiß Matthias Grewe nicht. „Es wäre eher unüblich, wenn ich in absehbarer Zeit beim Richteraustausch noch einmal dabei wäre.“Schließlich sei die Idee dahinter, möglichst viele Juristen von hüben wie drüben zusammenzubringen. Immer wieder dieselben zu nehmen, widerspricht diesem Grundgedanken. Er werde sie jedenfalls in sehr guter Erinnerung behalten, auch wenn sie der Grund waren, dass auch er im Rössle schließlich öffentlich ein Lied habe singen müssen. „Ich habe ,Mit Lieb’ bin ich umfangen’ gewählt.“In einer leicht abgewandelten Version „zu diesem schönen Feste, den Glückwunsch bring ich Dir“, um auf diese Weise einer Teilnehmerin, die an jenem Tag Geburtstag hatte, zu gratulieren. Wenn einer der obersten Richter Chinas als Gast trällert, dann kann der Gastgeber schließlich nicht stumm bleiben.