Die Paten vom Schwarzwald
Ein gigantischer Mafiaprozess in Karlsruhe zeigt, wie sich italienische Banden im Südwesten ausbreiten
KARLSRUHE - „La Famiglia“ist bestens gelaunt. Die Herren tragen Freizeitkleidung, Poloshirts, Jeans und Turnschuhe. Es wird gelächelt und gewunken, es gibt Küsschen auf die Wangen. Es herrscht Wiedersehensfreude. Allein eine Dame etwas abseits, wohl eine Ehefrau, schluchzt und vergießt Tränen, ihre Nase ist gerötet. Kein Wunder, denn die Herren, die sich unter der Stuckdecke des Schwursaals im Landgericht Karlsruhe herzen, tragen Handschellen und Fußfesseln. Die Angeklagten, überwiegend Italiener oder italienischstämmig, lächeln zwar ihre Lage weg, doch die könnte kaum übler sein: Im Raum stehen Drogenhandel im großen Stil, Waffenbesitz, Brandstiftung, schwere Körperverletzung und auch versuchter Mord. Ihnen drohen lange Haftstrafen in einem der größten Mafiaprozesse in der Geschichte des Landes.
Neun Männer zwischen 26 und 57 Jahren müssen sich verantworten, vor dem Landgericht Konstanz eigentlich. Doch dort reichen die Dimensionen nicht aus für diesen auf 67 Tage angesetzten Mammutprozess, „in Art und Ausmaß für uns ein Ausnahmeverfahren“, wie eine Gerichtssprecherin erklärte. Allein der Rechtsbeistand braucht Platz, werden die Herren doch durch knapp 20 Anwälte vertreten. Nach dem Auftakt geht es trotzdem nach Konstanz, dann aber in die ehemalige Siemens-Kantine, die zum Hochsicherheitsbau aufgerüstet wird.
Schussfeste Sicherheitsschleuse
In Karlsruhe sind schon am frühen Morgen Mannschaftswagen der Polizei in den Seitenstraßen postiert. Ins Gerichtsgebäude kommen Besucher nur über eine schussfeste Sicherheitsschleuse, im Schwursaal selbst herrscht Kontaktverbot nach außen. In einem Rundschreiben an die Gerichtsmitarbeiter hieß es, dass nicht ausgeschlossen werden könne, „dass Unterstützer aus dem Umfeld Angeklagte zu befreien versuchen“. Nun, dazu kommt es am ersten Verhandlungstag glücklicherweise nicht, stattdessen braucht der Staatsanwalt mehr als eine Stunde, um die 117 Seiten und mehr als 50 Punkte der Anklageschrift zu verlesen.
Die Spitze der Taten ist im Schwarzwald-Baar-Kreis verortet, im pittoresken Hüfingen. Das Städtchen ist bekannt für seine Blumenteppiche an Fronleichnam, die Höllentalbahn von Donaueschingen nach Freiburg hält hier im Zweistundentakt. Nun aber haben die knapp 8000 Einwohner Gesprächsstoff für die nächsten Jahre. Im Mai 2017 hält abends eine Limousine vor einer Gaststätte. Ein Mann beugt sich von der Beifahrer- auf die Fahrerseite und feuert aus einer Pistole fünf Schüsse in die hell erleuchteten Fenster der Kneipe. Verletzt wird niemand bei den „Unstimmigkeiten aus Drogengeschäften“, wie es anfangs etwas harmlos heißt. Was das konkret bedeutet, erklärt der Staatsanwalt: „Es ging darum, Kontrahenten abzustrafen und ein Exempel zu statuieren“, wobei der Täter „Tote billigend in Kauf genommen“habe.
Unstimmigkeiten innerhalb der Branche gehören offenbar zum Geschäftsalltag, einmal geht der Mercedes eines „Familienmitglieds“in Flammen auf, ein anderes Mal fliegen in einem Club Fäuste und ein Messer wird gezückt. Das Gros der Anklagepunkte bezieht sich jedoch auf Drogenhandel mit Kokain und vor allem Marihuana. Mal wechseln ein, zwei Kilo die Partei, dann auch 30, 40 Kilo für sechsstellige Summen. Monatelang haben italienische und deutsche Ermittler zusammengearbeitet, um das kriminelle Geflecht zu zerschlagen. Im Juni 2017 greifen 300 Polizisten zu, 15 Männer werden verhaftet, zwei davon in Italien. 30 Wohnungen durchsuchen die Beamten, die allermeisten im Südwesten, im Schwarzwald-Baar-Kreis. Die Ausbeute ist fett: Die Kripo beschlagnahmt dem Vernehmen nach kiloweise Drogen, Schmuck und Geld, Autos und Immobilien; alles in allem Vermögenswerte in Höhe von rund sechs Millionen Euro. Die Ermittlungen ergaben demnach „Bezüge zur sizilianischen Cosa Nostra und der kalabrischen Ndrangheta“.
Der Gerichtssaal als Bühne
Plötzliche Mittellosigkeit und Vorwürfe tun dem Selbstbewusstsein der Angeklagten aber keinen Abbruch. Ein Mann aus dem Schwarzwald, Jahrgang 1967, offenbar Drehund Angelpunkt der Drogengeschäfte, bespielt den Gerichtssaal wie eine Bühne. Schlank gewachsen, baut er sich kerzengerade vor den klickenden Kameras der Reporter auf und streckt siegessicher den Daumen nach oben, bevor er lächelnd seine in blaue Gläser gefasste Sonnenbrille abnimmt. Seinen Beruf verrät der Anwalt später auch: „Mein Mandant ist ein einfacher Pizzabäcker.“
Die Verbindung Mafia und Gastronomie hat Tradition. Erst im Januar gingen Ermittler gegen den Ndrangheta-Clan Farao vor, hierzulande wurden elf mutmaßliche Mafiosi verhaftet. Unter den Festgenommenen war auch Mario L., ein Wirt aus Baden-Württemberg. In die Schlagzeilen geriet die Festnahme, weil Baden-Württembergs früherer Ministerpräsident Günther Oettinger wohl zu den Stammgästen des Italieners gehörte, auch die CDU soll bei ihm „kalabresische Abende“verbracht haben.
Das ist lange her. Nach wie vor aktuell sind bestimmte Geschäftsgebaren, wie Staatsanwalt Vincenzo Luberto dem Recherche-Netzwerk Correctiv erklärte: „In Deutschland kontrollierte der Farao-Clan den Handel von Produkten aus der kalabrischen Stadt Ciro, etwa Wein, Zitrusfrüchte, Öl und Zutaten für Pizza.“Der Clan schickt etwa ungefragt mehrere Kisten Wein an einen Restaurantbesitzer – und zwingt diesen dann, den Wein zu behalten. Über einen Gastwirt soll Mario L. in einem abgehörten Telefonat gesagt haben: „Ich lasse ihn eine Salsiccia-Wurst und eine Schweinskopfsülze kaufen, und in der ersten Aprilwoche gehst du da vorbei.“Dem Gastwirt drohte in jener Aprilwoche ein recht ungemütlicher Besuch.
Berichte wie diese mehren sich. Dass die italienische Mafia in Deutschland und speziell im Südwesten sich wohl fühlt, ist nicht neu. Neben Stuttgart ist sie vor allem im Ländlichen beheimatet, wie im aktuellen Fall in Donaueschingen und in Villingen-Schwenningen, oder im Rems-Murr-Kreis, auch in Oberschwaben und am Bodensee gab es Fälle. Die Provinz gilt den schweren Jungs als Rückzugsraum, um sich nach Straftaten den Ermittlungen zu entziehen. „Das ist noch immer so, aber nicht nur“, sagt die italienische Journalistin Margherita Bettoni, die sich seit Jahren mit der Mafia beschäftigt, der „Schwäbischen Zeitung“. Heute würden viele Mafiosi Deutschland als dauerhaften Standort für Geldwäsche, Immobilienund Drogengeschäfte nutzen. Eine logische Folge der Entwicklung: „Die jüngeren Mafiaangehörigen sind schließlich geboren in Deutschland“, das ihnen zur Heimat wurde.
Das gilt auch für den aktuellen Prozess, bei dem zwei 36 und 52 Jahre alte Männer aus Deutschland bereits in einem abgetrennten Verfahren zu Haftstrafen von jeweils mehr als drei Jahren verurteilt wurden. Und auch auf der Karlsruher Anklagebank sitzen viele mit italienischen Wurzeln, die in Deutschland geboren wurden, darunter der smarte Herr mit Sonnenbrille.
Eine hohe Dunkelziffer
Entsprechend präsent ist die ehrenwerte Gesellschaft. Nach Angaben aus dem Innenministerium stehen in Deutschland 560 Personen im Verdacht, Mitglieder der organisierten italienischen Kriminalität zu sein. Die Dunkelziffer dürfte allerdings enorm sein, manche Experten sagen, an diese Zahl könne man getrost eine Null dranhängen.
Damit dürften auch die Probleme künftig zunehmen. Für die Deutschland nach Meinung italienischer Experten aber das Rüstzeug fehlt. So sagte Italiens Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri im Frühjahr dem SWR-Magazin „Zur Sache BadenWürttemberg“: „Deutschland hat sehr gute Ermittlungsbehörden, aber es fehlen, wie in den meisten europäischen Ländern, die entsprechenden Mafiagesetze.“So gebe es nicht den Straftatbestand der Bildung einer mafiösen kriminellen Vereinigung, bemängelt Gratteri. „Das liegt daran, dass man denkt, es gebe die Mafia in Deutschland nicht.“Diese Naivität unterstellt auch Margherita Bettoni: „Die Deutschen denken noch immer: Das ist der nette Pizzabäcker von nebenan.“
Den gibt es auch, sogar in der Mehrzahl, aber eben nicht nur. Zu welcher Kategorie jener Angeklagte gehört, der so aufreizend gut gelaunt in die Kameras schaut, muss sich noch zeigen. Zu dem Fall will er genauso wenig etwas sagen wie seine Kollegen, führt sein Anwalt aus, sein Mandant handele nach dem sizilianischen Sprichwort: „Wer nichts sieht, nichts hört und nicht redet, wird in Ruhe 100 Jahre alt.“
Wo er diese Ruhe finden wird, bleibt offen. Noch stehen 66 Verhandlungstage aus, die Fußfesseln fangen schon jetzt an zu zwicken, und ein Beschuldigter bekreuzigt sich zwischendurch. Nach der Anklageverlesung ist die Stimmung irgendwie im Keller.