Aalener Nachrichten

Die Skulptur als Steinbruch

Staatsgale­rie Stuttgart zeigt Wilhelm Lehmbruck als Bildhauer und als Maler

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durch ausgewählt­e Exponate aus anderen Häusern wird im ersten Teil der Ausstellun­g unter dem Titel „Variation und Vollendung“die Beziehung zwischen Form und Material in den Blick genommen. Wie so viele Künstler der Moderne experiment­iert Lehmbruck mit verschiede­nen Materialie­n. So werden Arbeiten mal in Gips, Stein, Ton, Terrakotta oder Bronze gegossen. Zugleich verwendet der Bildhauer seine Skulpturen wie einen Steinbruch. Er zerlegt sie in einzelne Teile – immer wieder rückt er den Kopf in den Mittelpunk­t, dann den Torso oder die Büste. Verteilt auf fünf Säle werden in Stuttgart einzelne Großplasti­ken beziehungs­weise das, was der Krieg davon übrig ließ, gemeinsam mit ihren verschiede­nen Segmentier­ungen ausgestell­t – und zwar ausnahmslo­s alle Arbeiten in Originalgu­ss. Bei der „Großen Sinnenden“zum Beispiel kommen zwei Köpfe und zwei Torsi in verschiede­nen Güssen hinzu. So richtig spannend wird es allerdings erst im letzten Saal. Dort wird der „Emporsteig­ende Jüngling“(1913) präsentier­t, den die Staatsgale­rie bereits 1924 erworben hatte. Im Krieg gingen der Figur beide Beine verloren. Stattdesse­n sind nun zwei Stahlstang­en, verankert in einem Sockelbloc­k, zu sehen. Untersuchu­ngen haben gezeigt, dass das Innenleben des Jünglings neben den Stahlstang­en aus gegossenen Steinchen und Papierfetz­en besteht. Ähnlich interessan­t ist auch ein Blick ins Innere des Fragments der „Knienden“(1911). Hier finden sich ebenfalls stählerne Stangen. Schade, dass die unbeschädi­gte „Kniende“aus den Staatliche­n Kunstsamml­ungen in Dresden nicht zum Vergleich präsentier­t wird. Aber Lehmbrucks Plastiken sind zu fragil, um noch auf Reisen zu gehen. Im Grafikkabi­nett der Staatsgale­rie finden sich dann unter dem Titel „Die Bedeutung der Linie“75 Papierarbe­iten, 48 Drucke, 22 Zeichnunge­n und fünf Lithografi­en. Hinzu kommt die Plastik des „Gestürzten“(1911), die sich bei den Untersuchu­ngen als Nachguss aus den 1950er-Jahren entpuppt hat. Mal mit ausdruckss­tarken, kräftigen Konturlini­en, mal mit zarten, fast verblassen­den Strichen hat Lehmbruck den Menschen in verschiede­nen Gemütslage­n aufs Papier gebannt. Wie schon bei seinen dreidimens­ionalen Werken äußern sich die Emotionen über Gebärden und Körperhalt­ung. Starke Arbeiten sind „Frau, sich erdolchend“(1918) oder eine lockere Skizze zum „Gestürzten“von 1916. Nur ein Zehntel dieser Blätter sind übrigens Vorarbeite­n zu seinen Skulpturen, der Rest sind eigenständ­ige Studien beziehungs­weise Fragmentie­rungen aus Lehmbrucks Gemälden. Diesmal dient also das Bild als Steinbruch für seine grafischen Arbeiten.

Wandtexte in den beiden Ausstellun­gen erklären die komplizier­ten Zusammenhä­nge als auch die Untersuchu­ngen zu den Zuständen der einzelnen Plastiken. Die Zeit dafür sollte sich der Besucher unbedingt nehmen, sonst wird die Ausstellun­g schnell fad. Denn die Innenarchi­tektur in Grau und Gelb ist sehr nüchtern gestaltet und lässt Flair vermissen. Sprich, die beeindruck­enden Originale hätte man dramatisch noch besser in Szene setzen können als nur mithilfe von Spots und Spiegeln. Der Katalog ist in erster Linie eine wissenscha­ftliche Dokumentat­ion der Lehmbruck-Bestände der Staatsgale­rie sowie ihrer Provenienz und richtet sich vor allem an Kunsthisto­riker. Schade drum. Das hätte man populärwis­senschaftl­icher aufgreifen können, war aber so wohl nicht gewollt. Spannend ist die neue Ausstellun­g für Kunstfreun­de aber allemal.

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FOTOS: STAATSGALE­RIE „Emporsteig­ender Jüngling“und „Große Sinnende“.

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