„Das Altern verläuft bei jedem anders“
Wie Vorstellungen und Bilder vom Älterwerden das Lebensgefühl prägen, erklärt Psychologe Norbert Erlemeier
Mit 16 Jahren, glaubt man, steht fest, dass man mit 30 „erwachsen“sein wird. Mit 30 ist man davon längst nicht mehr überzeugt, meint aber weiterhin, mit 60 sei man „alt“. Der Alterspsychologe Norbert Erlemeier sieht solche Vorstellungen gelassen. Niemand könne sich davon freimachen, sagt er im Gespräch mit Paula Konersmann von der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Er rät jedoch, sich auch nicht davon bestimmen zu lassen.
Herr Professor Erlemeier, ab wann machen sich die Menschen Gedanken über das eigene Alter?
Das hängt davon ab, wie die eigene Lebensplanung aussieht – und inwieweit die Realität damit übereinstimmt. Bei vielen fängt es mit dem Berufseinstieg an. In einem Betrieb fügt man sich meistens in eine Altersstruktur ein und stellt sich entsprechende Fragen: Genüge ich allen Ansprüchen? Wie kann ich für das Alter vorsorgen? Später kommen Überlegungen hinzu, welche Veränderungen die Zukunft, aktuell etwa die Digitalisierung, mit sich bringen wird – oder was man körperlich noch leisten kann.
Kinder freuen sich über jedes neue Lebensjahr …
Das stimmt. Das Alter und Altern als Prozess spielen im Alltag eines Kindurch des kaum eine Rolle. Vom höheren Alter haben Kinder ein eher negatives Bild. Sie verbinden es mit Veränderungen wie grauen Haaren oder Krankheiten. Eine wichtige Rolle spielt, wie sie die eigenen Großeltern erleben: Sind sie zum Beispiel gut gelaunt, hilfreich und aktiv, entsteht eher ein positives Bild vom Alter.
Und wenn die Kinder selbst älter werden?
Jugendliche differenzieren ihr Altersbild stärker. Sie machen Erfahrungen mit unterschiedlichen Bezugspersonen, etwa über die Schule oder ihre Hobbys. Letztlich tut sich im Lauf eines Lebens so viel, man trifft so viele Menschen verschiedenen Alters, dass sich Bilder aus der Kindheit immer noch verändern. Nach dem Deutschen Alterssurvey, einer bundesweiten Repräsentativerhebung des Deutschen Zentrums für Altersfragen über die zweite Lebenshälfte, wird das Verhältnis zwischen Alt und Jung über die Zeit nicht schlechter.
Woran liegt das?
Die höhere Lebenserwartung mit all ihren Chancen hat vieles verändert. Manche 90-Jährige wirken heute, als wären sie erst 70. Es wird viel für ein gesundes, aktives Alter getan: von den Menschen selbst, aber auch von Sportvereinen oder über Förderung Altenpläne von Kommunen, Ländern und Bund. Auch in Kirchengemeinden gibt es viele Anlässe zur Begegnung der Generationen. Das alles trägt zu einem differenzierten Bild vom Alter bei. Im Bereich von Gesundheit und Pflege müsste allerdings noch mehr getan werden, damit nicht nur defizitorientierte Altersbilder vorherrschen.
Umgangssprachlich können mit „alt“verschiedene Altersstufen bezeichnet werden. Wann ist jemand denn tatsächlich „alt“?
Es ist zu unterscheiden zwischen dem kalendarischen und subjektiven Alter. Letzteres wirkt sich stärker auf Gesundheitsgefühl und Wohlbefinden aus. Aus chronologischer Sicht ist das Alter, das sich über 30 Jahre erstrecken kann, nicht völlig undefiniert. Die Spanne von 60 bis 75 Jahren bezeichnet man als „junges Alter“. 60 zu werden, ist für viele Menschen ein Einschnitt; sie beginnen sich zu fragen, wie die Zukunft aussehen wird und was sie dafür tun können. Für viele ist diese Phase eine gute Zeit: Die anstrengende Erwerbstätigkeit endet bald, es bleibt mehr Zeit für Dinge, die vorher zu kurz gekommen sind. Es gibt mehr Gelegenheit für Hobbys, Ruhe und Entspannung.
Und ab 75?
Von 75 bis 90 spricht man vom „hohen Alter“, danach dann vom „höchsten Lebensalter“. Derzeit leben in Deutschland mehr als 17 000 Menschen, die über 100 Jahre alt sind. Viele von ihnen haben zwar körperlich abgebaut, sind aber in ihrem Lebensgefühl noch positiv gestimmt. Körperliche Einschränkungen müssen also nicht bedeuten, dass alles vorbei ist. Aber natürlich steigen ab 75 Jahren die Anfälligkeit für Krankheiten und der mögliche Bedarf an Pflege.
Das ist ein Thema, das vielen Menschen Angst macht …
Im Lauf unseres Lebens können uns Dinge treffen, die nicht in unserer Hand liegen. Das müssen wir bei aller Planung und Vorsorge bedenken. Es sollte aber nicht dazu führen, dass wir furchterregende Bilder von Zukunft und Alter entwickeln und verinnerlichen.
Manche Menschen blicken auch sorgenvoll auf frühere Einschnitte wie 30 oder 40. Woran liegt das?
Wie wir diese Einschnitte empfinden, hängt von den Lebensumständen ab. Wer beruflich oder privat unzufrieden ist, nicht so weit gekommen ist, wie er sich gewünscht hätte, für den sind runde Geburtstage eher eine Bürde und Hürde. Man sollte jedoch nie die Hoffnung auf Besserung aufgeben und das Leben oder eine Lebensphase als „gelaufen“betrachten.
Wer zufrieden ist, feiert die runden Geburtstage dagegen gern?
Teils dienen solche Anlässe dazu, zurückzublicken, beispielsweise mit Stolz auf das, was man erreicht hat, mit Dankbarkeit und Freude darüber, dass man Freunde hat, die mit einem feiern. Je älter man wird, desto mehr mischt sich die Feierlaune mit leiser Wehmut und der Frage, wie es wohl in zehn Jahren sein wird. So ist einem nicht jedes Mal nach einem großen Fest zumute. Manchmal ist etwa eine Reise, intensives Erleben mit wenigen Menschen passender. Mit dem Alter wird es zudem weniger wichtig, im Mittelpunkt zu stehen.
Welche Rolle spielt Altersdiskriminierung?
Laut Deutschem Alterssurvey berichten 10,6 Prozent in der zweiten Lebenshälfte von solchen Erfahrungen. Von Diskriminierung sind höhere Altersgruppen stärker betroffen. Bei den Jüngeren betrifft es eher das Berufs- und Arbeitsleben. Ältere erleben Diskriminierung eher im Bereich medizinischer Versorgung, bei Behörden oder Banken. Altersdiskriminierung kommt vor; es handelt sich aber nicht um ein großes gesellschaftliches Problem und sollte nicht überzeichnet werden.
Ihr Tipp, um ein positives Altersbild zu entwickeln?
In der Forschung unterscheidet man zwischen Altersselbst- und Altersfremdbildern. Manche Fremdbilder, etwa aus der Werbung, sollte man hinterfragen. Wie glaubwürdig ist es, wenn etwa augenscheinlich 50-jährige Models für Rollatoren werben? Was das Selbstbild angeht, sollte man sich nicht selbst auf das Klischee „alt und verbraucht“festlegen. Das kann schon durch vermeintliche Alterssymptome geschehen. Wer hat nicht schon mal gewitzelt, er leide wohl an Alzheimer, weil er im Supermarkt etwas vergessen hat? Wenn man es damit übertreibt, droht eine Selbst-Stereotypisierung. Von den Bildern und Vorstellungen über das Alter kann sich niemand frei machen, aber man kann sie möglichst offen gestalten. Das Altern ist kein standardisierter Prozess, sondern verläuft bei jedem durch Umstände und Mitwirkung anders.