Wo die Kinder neben Toten baden
Die heilige Hindu-Stadt Varanasi am Ganges ist das wohl größte Extrem Indiens
VARANASI
- Ein braungebrannter Fuß ragt einsam zwischen Holzscheiten hervor. Der restliche Körper ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Eingewickelt in weißes Leinen, liegt er inmitten der Scheite in einem rostigen Käfig voller Brandspuren. Außen herum sitzen Menschen, Hunde streiten sich um Fleischreste, ein Ziegenbock versucht, eine Geiß zu besteigen. Nur wenige Meter weiter spielen Kinder. Mitten im blühenden Leben am Ufer des Ganges, in der eine Million Einwohner zählenden Stadt Varanasi in Indiens Nordosten, liegt die Leiche eines jungen Mannes. Später am Tag wird seine Asche im Fluss treiben.
Für europäische Augen bieten die Ganga-Ghats, die Verbrennungsstellen am Ufer, einen grotesken Anblick. Und doch: Die Szene ist seltsam friedlich. Varanasi ist die heilige Stadt Indiens. Hier zu sterben ist ein Lebensziel. Wer im Ganges beerdigt wird, befindet sich nach dem Glauben der Hindus auf direktem Weg in den Zirkel der Wiedergeburt. Sterbenskranke Menschen aus allen Ecken des riesigen Landes machen sich deshalb täglich auf den letzten Weg in die Stadt im Norden. 40 000 Leichen verbrennen sie hier jährlich, mehr als 100 am Tag. Ihre Überreste landen direkt in der Lebensader Indiens. Von dem gigantischen Fluss, der sich durch den ganzen Nordosten des Landes zieht, ist jeder 13. Bewohner der Erde direkt oder indirekt abhängig. Jeder Tropfen in Varanasi ist, dank menschlicher Überreste und Industrieabwässer, potenziell tödlich.
Und dennoch gilt nicht nur das Sterben am heiligen Fluss als erstrebenswert, sondern auch das Baden. Tausende gehen täglich zu den Treppen, die Männer leicht bekleidet, die Frauen in lange Saris gehüllt. Unter Gebeten steigen sie in den Fluss, benetzen sich mit den heiligen Tropfen. Strenggläubige tauchen den Kopf siebenmal unter Wasser, bevor sie davon trinken, um sich von Sünden zu reinigen. Aber auch Kinder planschen hier, andere waschen ihre Wäsche, putzen sich die Zähne mit Flusswasser oder kochen Tee. Zwischen ihnen und der Stelle, an der die Asche der Verbrannten in den Fluss gekippt wird, liegen nur wenige Meter.
Wenn es immer nur Asche wäre: Die Verbrennung von Angehörigen kostet Geld. Viel Geld. Meterweise stapelt sich das Holz hinter den Käfigen. Hier bieten Händler den Rohstoff feil, dazu teures Sandelholz gegen den Geruch für Hunderte von Rupien. Die Verkäufer sind Unberührbare, Angehörige der niedrigsten Kaste. Die Einzigen, die sich mit den Toten beschäftigen dürfen. Sie sorgen für das Holz, schmücken die Leichname und gestalten die Verbrennungszeremonien. Leisten können sich das längst nicht alle Inder. Das Holz ist deshalb bei einigen Feuerbestattungen knapp, viele Körper verbrennen nicht vollständig. Die Mindestanforderung ist, dass die Schädeldecke platzt. Nur so kann der Geist entweichen. Wenn das Feuer nach zwei bis fünf Stunden aus ist, kehren Unberührbare den Inhalt des Käfigs in den Ganges. Egal ob alles verbrannt ist oder nicht.
Die Leichen von Kindern, von schwangeren Frauen, Priestern und Unberührbaren werden nicht verbrannt. Mit einem Stein beschwert landen sie im Fluss. Tausende Leichname verwesen deshalb auf dem Grund des Ganges. Ab und zu löst sich ein Körper vom Stein, treibt nach oben und schwimmt an der Oberfläche zwischen spielenden Kindern und Gläubigen, wird zum Futter für die Straßenhunde. Dazwischen dümpeln halb verkohlte Körperteile, Tierkadaver, Abfall.
Eine Mischung, die den Ganges zum giftigsten Fluss der Welt macht. Die Angaben zum Gehalt von Kolibakterien schwanken: Der niedrigste Wert liegt 2000-mal höher als der indische Grenzwert. Dazu entstehen durch die Verwesung Gifte wie Botulinumtoxin, eine der tödlichsten Substanzen der Welt. Weil über die gesamte Länge des Ganges täglich 60 Millionen Liter Industrieabwässer direkt in den Fluss geleitet werden, ist er zudem mit Arsen, Cadmium, Blei oder Chrom vergiftet.
Und so ergibt sich in Varanasi, seltsam verdichtet an den Ghats, ein Kreislauf zwischen Leben und Sterben. Während die Alten herkommen, um friedlich Abschied vom Leben zu nehmen, sterben die Kinder elend an Typhus, Keuchhusten oder Cholera. Allein der Geruch, der 24 Stunden am Tag über der Stadt liegt, vermischt Leben und Tod wie wohl sonst nirgendwo auf der Welt. Der Gestank halb verwester Leichen konkurriert mit dem Duft des frischen Obsts auf den Märkten. Der stechende Geruch verbrannten Fleisches von den Ghats vermischt sich mit dem von Hähnchen und Gemüse an den Straßengrills. Auf dem Boden der engen Gassen, die sich durch die ganze Stadt ziehen, schwappen die Ausscheidungen der heiligen Kühe. Genau wie fast alle Menschen in der Stadt leiden sie an chronischem Durchfall.
Bei einer alten Frau, die in der immer noch glühenden Nachmittagssonne auf den Stufen am Fluss liegt, löst der Geruch Husten aus. Es sind wohl ihre letzten gequälten Atemzüge, die Angehörigen warten schon im Schatten. Sie liegt eingewickelt in bunten Stoff, Blumen liegen bereit, um ihren Leichnam zu schmücken. Nur wenige Meter sind es bis zur Giftbrühe am Ufer, doch auch hier tobt das Leben. Händler haben ihre Waren auf Teppichen ausgebreitet, Männer bieten den wenigen Touristen, die sich hierher trauen, Handmassagen an. Gleich um die Ecke brennen knisternd zwei Leichname, Asche wirbelt durch die Luft.
Dass die heilige Praxis der Verbrennung tödliche Folgen hat, ist inzwischen auch in Indien bekannt. Für die gläubigen Hindus gibt es allerdings keine Alternative. Elektrische Krematorien hat die Regierung vorgeschlagen, Programme, um den Fluss zu säubern. Vorschläge, die den Zorn Dom Rajas beschworen. Er, der Unberührbarste der Unberührbaren, ist der Herr der Ghats. Obwohl er zur niedrigsten Kaste gehört, gilt er als reich, als vielleicht einflussreichster Mann Varanasis. Er ist der Hüter des Feuers. Keine Leiche wird verbrannt, ohne dass sein Clan daran verdient. In seinem Widerstand gegen die Krematorien wird er vom Maharadja Varanasis unterstützt. Pelu Bhiru Singh gilt als Patron der Gläubigen. Jeden Morgen trinkt er Gangeswasser. „Chlorwasser würde uns krank machen“, soll er einmal gesagt haben. Das Sterben wird also weitergehen in Varanasi, genau wie das blühende Leben direkt daneben.
Die alte Frau auf den Stufen am Ufer hat aufgehört zu husten. Ihre toten Augen blicken den Fluss entlang, der schon in der Abendsonne glitzert. Irgendwo dort treibt die Asche des jungen Mannes im weißen Leinen. Sie lächelt.
Der Geruch, der 24 Stunden über der Stadt liegt, vermischt Leben und Tod wie wohl nirgendwo sonst. Gleich um die Ecke brennen knisternd zwei Leichname, Asche wirbelt durch die Luft.