Biedermeier als Utopie: Es gibt keine heile Welt
Aalener Stadttheater zeigt ungewöhnlichen Rundgang durch die Spitzweg-Ausstellung auf Schloss Fachsenfeld
AALEN-FACHSENFELD - In die Schlossräume in Fachsenfeld ist mit dem Theater der Stadt Aalen das Leben eingezogen. Und eine Tragödie, weil das anscheinend zum Menschenleben dazugehören muss. Der Titel des szenischen und musikalischen Rundgangs „Lebendige Bilder“wird Programm. Es sind die Bilder der aktuellen Spitzweg-Ausstellung auf Schloss Fachsenfeld. Also Studien voller Ironie, Humor und manchmal auch Spott. Die spätbiedermeierlichen Figuren und Spießbürger kriegen ihr Fett weg. Die „gute alte Zeit“war eine Utopie, so das Diktum in Öl auf Leinwand. Den Theaterleuten sagen die Bilder noch einiges mehr. Zur Premiere dieses ungewöhnlichen Rundgangs waren ordentlich Besucher gekommen.
Und die werden in Gruppen eingeteilt, um die Gäste zu bündeln, sie bei den Werken Carl Spitzwegs (1808 bis 1885) verweilen zu lassen. Los geht es gleich hinter der Tür. Das Klarinetten-Quartett der Musikschule Aalen, „The Woodstocks“, empfängt, zwischen den Hellebarden, Hirschgeweihen, Sturmhelmen und Sauspießen. Philipp Dürschmied ist entsprechend gewandet, sitzt auf der Treppe mit einem Zylinder auf dem Kopf. So ein ähnlicher, wie er beim „Armen Poet“am Ofenrohr hängt. Daneben sitzt Arwid Klaws mit Hütchen – als Biedermeierdame. Es gibt ein paar Takte über Spitzweg, seine Landschafts- und Miniaturmalerei und etwas über die Typen, die er da malte.
Das Theater geht bei diesem Rundgang weniger auf Spitzwegs Biographie ein, sondern darauf, wie die Bilder auf die Schauspieler wirken. An jeder „Station“wird das entsprechende Bild angestrahlt. Wie etwa „Alter Türke“. Der röchelt, schnaubt und macht per Lautsprecher-Box seinem Unmut über eine nervige Fliege Luft. Sie hat’s auf die türkische, mit Puderzucker überstreute Süßigkeit abgesehen.
Weiter geht es in die 1848er-Revolutionsjahre und dann ins eher spartanische Badezimmer. „Susanne im Bad“ist angestrahlt. Aber es geht nicht um eine lustige oder frivole Badeszene. Die Stimme von Anne Klöcker erklingt vom Band. Zunächst plätschert es in der Wanne. Dann wird offen, was der Frau angetan wurde, das vermeintliche SpitzwegIdyll ist verflogen. Sie wurde vergewaltigt. Nicht nur einmal. Und auch mit Besenstiel, Gewehrlauf und Flaschen. Von Soldaten, die höhnisch lachen. Was sie zurückgelassen haben ist eine Tragödie, eine abgetrennte Schamlippe und „das tote Tier zwischen meinen Beinen“. Die Szene stammt aus den „Vagina-Monologen“. Warum diese brutale Szene bei einem szenischen Rundgang durch eine Spitzweg-Ausstellung? Weil sie ganz real ist, tagtäglich geschieht.
Die letzte Szene spielt in der Bibliothek des Barons. Man denkt an Spitzwegs „Bücherwurm“. Erhellt ist aber das Bild mit einem Buben und einem Mädchen auf einem Waldweg. Von der Bibliotheks-Balustrade erklingt lieblicher Gesang und ein Leierkasten. Vorne, am elektrischen Kaminfeuer sitzen Dürschmied als Märchen-Erzähler und Klaws als Hexe. Denn es geht, klar – um Hänsel und Gretel. Dieser Rundgang (Regie: Jonathan Giele) ist ungewöhnlich, interessant und wirft ein neues Licht auf alte Gemälde. Und er zeigt: Wo Menschen leben, gibt es keine heile Welt. Zumindest meistens und vorläufig nicht.