Die Bibliothek der Körperflüssigkeiten
Im neuen Bioprobenlager in München soll künftig künstliche Intelligenz klären, warum der eine krank wird und der andere gesund bleibt
MÜNCHEN - Um diesen – so nennen ihn die Forscher – „extrem wertvollen Schatz“zu heben, braucht es keinen Spaten und keine Karte, ja nicht mal den Raum muss man verlassen, geschweige denn in See stechen. Vielmehr reicht ein Mausklick und schon surrt jene silbern-glänzende Apparatur los, in deren Inneren ein Elektromagnet steckt. Entlang einer Schiene rauscht sie zur gewünschten Stelle und senkt sich dann in einen der meterhohen Tanks, in denen flüssiger Stickstoff die Temperatur auf minus 180 Grad herunterkühlt.
Aus diesem XXL-Gefrierfach lupft der Elektromagnet eine Kassette nach oben. Daraus zieht eine Art Tortenheber ein Gestell hervor, und aus diesem wiederum drückt ein Metallstift die gewünschte Probe heraus – den Schatz, wenn man so will. Wobei eine solche Blut-, Urin- oder Speichelprobe alleine kaum von größerem Wert für die Forschung wäre. Doch hier im neuen Bioprobenlager am Helmholtz Zentrum München befinden sich aktuell bereits rund elf Millionen Bioproben – in fünf Jahren sollen es 21 Millionen sein. Und diese Fülle an menschlichen Informationen sei ein weltweit einmaliger „ungeheurer Schatz für die deutsche Forschungslandschaft“, sagt Matthias Tschöp, wissenschaftlicher Geschäftsführer am Helmholtz Zentrum. Mit dessen Hilfe will die Forschung der Entstehung von Volkskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Demenz und Herzinfarkt auf die Spur kommen.
Hintergrund ist die NAKO-Gesundheitsstudie, die bis vor Kurzem noch unter dem Namen „Nationale Kohorte“firmierte – mithin die größte Langzeit-Bevölkerungsstudie in Deutschland. Sie will herausfinden, welche Faktoren zur Entstehung einer Krankheit beitragen. Oder vereinfacht gesagt: Die Studie sucht Antworten auf die Frage, wieso der eine krank wird, der andere jedoch gesund bleibt. Finanziert wird die Untersuchung durch den Bund, die Länder und diverse Forschungseinrichtungen. Binnen zehn Jahren fließen 256 Millionen Euro in das Projekt.
Proben von 200 000 Menschen
Für die NAKO-Gesundheitsstudie sollen 200 000 zufällig ausgewählte Deutsche zwischen 20 und 69 Jahren befragt und medizinisch untersucht werden. Die Erhebung läuft noch bis Mitte 2019. Schon jetzt haben in den vergangenen vier Jahren rund 180 000 Menschen an der Studie teilgenommen. Sie haben hierfür eines der deutschlandweit 18 Studienzentren aufgesucht – in Baden-Württemberg gibt es diese in Freiburg und Mannheim, in Bayern in Augsburg und Regensburg. Dort werden die Teilnehmer zu ihren Lebensgewohnheiten befragt sowie umfassend medizinisch untersucht – unter anderem mittels eines GanzkörperMRT. Im Weiteren geben die Probanden eine Blut-, Urin-, Speichelund Stuhlprobe sowie einen Nasenabstrich ab, die anschließend auf rund 100 Einzelproben aufgeteilt werden. Schließlich sollen Forscher auch noch Jahrzehnte nach der Erhebung auf Bioproben in höchster Qualität zurückgreifen können, sagt Annette Peters, die Vorstandsvorsitzende der NAKO-Gesundheitsstudie.
Um dies zu gewährleisten, braucht es freilich einen geeigneten Lagerplatz – und da kommt das Bioprobenlager in München ins Spiel. Die deutschlandweit größte Einrichtung ihrer Art wurde in den vergangenen drei Jahren für rund 17 Millionen Euro errichtet und gestern eröffnet. Hier sollen rund zwei Drittel aller Bioproben der NAKO-Studie für dreißig Jahre eingelagert werden. Der Rest bleibt bei den Studienzentren. Das neue Gebäude in München verfügt über zwei Lagersysteme. Zum einen gibt es einen quadratischen, etwa fünf Meter langen Gefrierschrank, in dem 2,7 Millionen Proben bei minus 80 Grad aufbewahrt werden können. Zum anderen, und das ist das Herzstück der Anlage, stehen in einer großen Halle 23 Stickstofftanks. Ein jeder davon bietet Platz für eine Million Bioproben – gelagert bei minus 180 Grad. Ein Spezialroboter, der auch bei extremer Kälte funktioniert, übernimmt dabei vollautomatisch den Ein- und Auslagerungsprozess. Denn, so Annette Peters: „Menschen machen bei der Sortierung von Proben Fehler. Da sind uns die Maschinen überlegen.“
Schätze der Wissenschaft
Maschinen sollen den Wissenschaftlern dereinst auch bei der Analyse der Bioproben zur Seite stehen. Mithilfe künstlicher Intelligenz, sagt Matthias Tschöp, könne man „wissenschaftliche Schätze unvorstellbarer Ausmaße“heben. Und auch hier gilt wieder: ganz ohne die üblichen Utensilien eines Schatzjägers – sondern nur mithilfe des Computers.