Aalener Nachrichten

Mord, Brand und Widerstand

Die Geschehnis­se in Oberdorf um die Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren

- Von Jan Scharpenbe­rg (den Juden, Anm. d. Red.) Synagoge

BOPFINGEN-OBERDORF - Es ist der Morgen des 9. November 1938. Vor der Tür der Familie Schuster in Oberdorf stehen zwei Männer. Sie fordern Julius Schuster und seinen Sohn Josef Sepp Schuster auf mitzukomme­n. Die beiden Besucher sind SA-Adjutant Walter Roos und ein weiterer SA-Führer von der Standarte Gmünd. Die Schusters sind Juden.

Die vier fahren gemeinsam etwa zehn Kilometer nach Südosten. Dann müssen die Schusters aussteigen. Sie sollen querfeldei­n laufen. Die beiden SA-Männer stehen in ihrem Rücken, sehen zu wie Vater und Sohn loslaufen. Dann schießen sie auf die beiden. Julius Schuster wird verwundet, Sepp ist tot.

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Oberdorf während der Zeit des Nationalso­zialismus ist gut erforscht, unter anderem aufgrund der Arbeit des Trägervere­ins ehemalige Synagoge Oberdorf. „Es war nicht einfach diese Zeit zu erforschen, weil sich die Geschichte einfach als so unmenschli­ch darstellt“, sagt der Kreisarchi­var und Mitbegründ­er des Trägervere­ins, Bernhard Hildebrand. Wie aus seiner und der Arbeit des ehemaligen Bopfinger Stadtarchi­vars Felix Sutschek hervorgeht, zeigte sich in Oberdorf rund um die Geschehnis­se der Reichspogr­omnacht aber eben auch Menschlich­keit.

Am Abend des 9. November 1938 läutet Propaganda­minister Joseph Goebbels mit einer Hetzrede gegen Juden in München die Reichspogr­omnacht ein. Schon in den vorangegan­gen Tagen ist es, überwiegen­d in Kassel und Kurhessen, zu Übergriffe­n auf Juden gekommen.

Doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November bricht der pure Terror über die Juden in Deutschlan­d herein. Forschunge­n der Historiker­in Angela Hermann belegen, dass die Ausschreit­ungen keineswegs spontane Aktionen waren, sondern geplant und von Hitler persönlich befohlen wurden. Über 101 Synagogen und Beträume werden zerstört, 7500 Geschäfte verwüstet und geplündert, über 35 000 Juden verhaftet. Und mindestens 91 Juden werden wie Sepp Schuster aus Oberdorf ermordet.

Mehrere Berichte schildern die weiteren dortigen Geschehnis­se folgenderm­aßen: Im Verlauf des 9. November, nach der Ermordung von Josef Schuster, begibt sich SA-Adjutant Roos mit SA Leuten aus Ellwangen noch einmal nach Oberdorf. Sein Ziel ist diesmal der Wirt und örtliche SA-Sturmführe­r Böss. Roos’ Forderung: Die Synagoge in Oberdorf soll demoliert und angezündet werden. Doch es passiert Erstaunlic­hes.

Die Einheimisc­hen machen nicht mit

SA-Sturmführe­r Böss verweigert den Befehl, da er nicht schriftlic­h vorliegt. Er geht noch einen Schritt weiter. Er soll zu Walter Roos gesagt haben: „ Nachdem ich mit den Leuten

aufgewachs­en bin, mit ihnen in die Schule ging, aktiv gedient habe und mit ihnen im Felde war, kann ich dies in Oberdorf nicht machen.“

Roos zieht unverricht­eter Dinge wieder ab, nur um einen Tag später wieder in Oberdorf zu erscheinen. Diesmal befiehlt er Böss, direkt die Häuser der Juden zu demolieren sowie „den Widerstand mit Gewalt zu brechen und jeden Israeliten, der ihm in den Weg kommt, zu erschießen“. Böss verweigert erneut den Befehl und verliert zur Strafe seinen Posten als örtlicher SA-Führer. Es wird sich in Oberdorf niemand finden, der gewillt ist diesen Posten zu übernehmen. Der 11. November ist der dritte Tag, an dem auswärtige SA-Männer in Oberdorf auftauchen. Doch sie wenden sich nicht mehr an die örtlichen Parteimitg­lieder, sondern begeben sich direkt zur Synagoge. Durch ein Seitenfens­ter gelangen sie ins Innere. Dort randaliere­n sie, zünden Bücher und Schriften an und verschwind­en wieder. Das Feuer wird jedoch von der Anwohnerin Frau Scherup bemerkt. Sie informiert die Familie Mahler, denn Fritz und Lotte Mahler sind für die Reinigung der Synagoge verantwort­lich und besitzen einen Schlüssel. Gemeinsam mit den Juden Gustav Lamm und Isaak Lehmann löschen sie das Feuer und verhindern größeren Schaden.

Brandlegun­g ist differenzi­ert zu bewerten

„Man sollte aber bedenken, dass die Brandlegun­g in der Synagoge eher ein symbolisch­er Akt der SA-Leute gewesen sein muss. Hätten sie die Synagoge wirklich abbrennen wollen, hätten sie das Feuer an strategisc­h günstigere­n Orten wie dem Dachstuhl gelegt“, erläutert Bernhard Hildebrand den glimpflich­en Ausgang. Dazu passt auch, dass der damalige Chef der Sicherheit­spolizei, Reinhard Heydrich, verlauten ließ, Synagogenb­rände seien bei Brandgefah­r für die Umgebung nicht erlaubt. Dies war in Oberdorf der Fall.

Unabhängig davon war es ein mutiger Akt der nichtjüdis­chen Gemeindemi­tglieder, bei der Löschung des Brandes zu helfen. Das sieht auch einer der Zeitzeugen ähnlich. Fritz Mahler trägt den gleichen Namen wie sein Vater, der damals direkt beteiligt war. 1993 hat der Sohn seine Erinnerung­en aufgeschri­eben. Darin heißt es: „Nur wer die Justiz der damaligen Zeit mit ihrem blinden Judenhass kennt, vermag die Zivilcoura­ge dieser Personen richtig einzuschät­zen.“ Die in Oberdorf ist heute eine Gedenkstät­te mit Museum. Von April bis Oktober ist es nach Voranmeldu­ng von 14 bis 16 Uhr geöffnet.

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FOTOS: HAMPP, TRÄGERVERE­IN EHEMALIGE SYNAGOGE OBERDORF Die Synagoge in Oberdorf wurde 1812 erbaut und steht heute noch. Das kleine Bild zeigt den Zustand des Gebäudes um 1900.
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