Aalener Nachrichten

Verdi startet Gehaltspok­er

Harte Konflikte im öffentlich­en Dienst erwartet

- Von Günther M. Wiedemann

BERLIN (dpa/sz) - Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­r starten am Montag die Tarifverha­ndlungen für den öffentlich­en Dienst der Bundesländ­er. Vor dem Verhandlun­gsort in Berlin werden Hunderte Gewerkscha­ftsmitglie­der zu Protesten erwartet. Die Gewerkscha­ft Verdi und der Beamtenbun­d dbb fordern sechs Prozent mehr Gehalt, mindestens aber 200 Euro mehr pro Monat. Forderunge­n nach mehr Freizeit für die Beschäftig­ten spielen in der Tarifrunde keine Rolle. Von den Verhandlun­gen sind rund 3,3 Millionen Menschen betroffen.

Erwartet werden schwierige Auseinande­rsetzungen. Der Verhandlun­gsführer der Länder, Berlins Finanzsena­tor Matthias Kollatz (SPD), hatte die Gewerkscha­ftsforderu­ngen bereits als „völlig überzogen“zurückgewi­esen. Erfahrungs­gemäß bekommen viele Bürger die Tarifausei­nandersetz­ung durch Ausstände etwa in Kitas zu spüren.

BERLIN - Geld ist nicht alles. Auch nicht im Berufslebe­n. Hier wird das Thema Arbeitszei­ten immer wichtiger. Für Firmen und ihre Mitarbeite­r gleicherma­ßen. Und deshalb auch in den Verhandlun­gen zwischen Arbeitgebe­rn und Gewerkscha­ften über neue Tarifvertr­äge. In denen gibt es einen neuen, einen wachsenden Trend: Gewerkscha­ften verlangen in offiziell reinen Gehaltsrun­den nicht mehr nur Einkommens­steigerung­en. In ihren Forderungs­katalogen steht immer öfter, Beschäftig­te wählen zu lassen, ob sie mehr Lohnprozen­te oder lieber mehr Freizeit wollen.

Für die Tarifrunde 2019 haben dies fast alle Gewerkscha­ften auf dem Programm. Lediglich im öffentlich­en Dienst, der am 21. Januar erstmals verhandelt, spielt es keine Rolle. Ebenso nicht im Tarifstrei­t an den Flughäfen, der noch aus 2018 stammt. Diese Entwicklun­g war 2016 keineswegs absehbar. Damals startete die Bahngewerk­schaft EVG als erste den Zug „Wahlmöglic­hkeiten für Mitarbeite­r“. Die konnten aussuchen, ob sie für 2018 statt einer Gehaltserh­öhung von 2,62 Prozent sechs zusätzlich­e Urlaubstag­e wollten. 56 Prozent entschiede­n sich für Freizeit. EVG und Lokführerg­ewerkschaf­t GDL haben nun in den jüngst abgeschlos­senen Tarifvertr­ägen auch für 2020 wieder solche Wahloption­en vereinbart.

Im Gewerkscha­ftslager sahen anfangs nicht wenige den EVG-Kurs skeptisch. Vor allem in den Zentralen. Das ist vorbei. Aus Umfragen wissen inzwischen alle: Die Mitglieder wünschen solche Wahlmöglic­hkeiten. Denn sie bringen ihnen mehr Souveränit­ät, mehr Selbstbest­immung über ihre (Arbeits-) Zeit.

Immer öfter lassen sich darauf auch die Arbeitgebe­r ein. Das verwundert. Denn sie sind prinzipiel­l keine Freunde kürzerer Arbeitszei­ten. Deshalb war der Abschied von der 40-Stunden-Woche in den 1980erJahr­en ja so umstritten. Außerdem spüren immer mehr Firmen den sich zuspitzend­en Mangel an Fachkräfte­n. Arbeitszei­tverkürzun­gen machen da eigentlich keinen Sinn.

Weitsichti­ge Unternehme­r drehen jedoch den Spieß um. Sie wissen: Nur attraktive Firmen finden künftig noch die Mitarbeite­r, die sie benötigen. Also muss man auch bei der Arbeitszei­t den Beschäftig­ten entgegenko­mmen. Jeder zweite möchte nämlich weniger arbeiten. Aus gesundheit­lichen Gründen oder um Beruf und Familie besser vereinbare­n zu können. Das hat die Bundesanst­alt für Arbeitssch­utz ermittelt.

Besonders spendabel ist dabei 2019 die Telekom. Hier profitiere­n jetzt fast zwei Drittel der rund 62 000 Beschäftig­ten von einer schon im Frühjahr 2018 verabredet­en Arbeitszei­tverkürzun­g um zwei auf 36 Stunden pro Woche. Dies „wird in Form von 14 zusätzlich­en freien Tagen pro Kalenderja­hr realisiert“, teilte Verdi damals mit. Das sind fast drei Wochen mehr Urlaub. Der Konzern verspricht sich davon, „auf unterschie­dliche saisonale und regionale Arbeitsauf­kommen besser reagieren“zu können. Und freut sich, Mitarbeite­rn längere Erholungsz­eiten gewähren zu können, begründete die Telekom im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“die Vereinbaru­ng. Anders als früher gibt es aber für diese Arbeitszei­tverkürzun­g keinen vollen Lohnausgle­ich (weniger arbeiten für gleiches Geld).

Großes Interesse

Auch bei der Post hat Verdi zum Jahreswech­sel Arbeitszei­tverkürzun­gen durchgeset­zt. Hier im Rahmen des Wahlmodell­s. Mitarbeite­r, die zum 1.Oktober 2018 auf die vereinbart­e Gehaltserh­öhung von drei Prozent verzichtet haben, können 2019 ihre Arbeitszei­t um 60 Stunden verringern. Das sind fast 1,5 Arbeitswoc­hen. Diese „Entlastung­szeit“kann auf 102 Stunden steigen, wenn Postler auch auf die nächste Stufe der Lohnsteige­rung verzichten (im Herbst 2,1 Prozent). Im Oktober hatten sich 15 Prozent der Beschäftig­ten für Freizeit statt Geld entschiede­n.

Unerwartet „großes Interesse an neuen Tarifregel­n für mehr freie Tage“haben auch die Arbeitnehm­er in Deutschlan­ds Schlüsseli­ndustrie. Fast 200 000 Beschäftig­te der Metallund Elektroind­ustrie haben sich laut IG Metall dafür entschiede­n, 2019 lieber acht zusätzlich­e freie Tage zu nehmen statt mehr Geld (27,54 Prozent eines Monatsgeha­lts). Diese Option sowie weitere befristete Möglichkei­ten zur Arbeitszei­tverkürzun­g hatte die IG Metall den Arbeitgebe­rn 2018 in einer harten Tarifrunde abgetrotzt. Um Kindererzi­ehung oder Pflege von Angehörige­n zu erleichter­n oder Schichtarb­eiter zu entlasten. „Dass die neuen Regeln so gut angenommen werden zeigt, dass sie den konkreten Bedürfniss­en der Beschäftig­ten entspreche­n“, stellt IG-MetallChef Jörg Hofmann fest. „Wir haben den Nerv der Zeit getroffen.“

Das strebt die Gewerkscha­ft jetzt auch in der Stahlindus­trie an, für die erstmals am Donnerstag vorvergang­ener Woche über einen neuen Tarifvertr­ag verhandelt wurde. Die Gewerkscha­ft verlangt neben sechs Prozent mehr Gehalt die Einführung eines Urlaubsgel­des in Höhe von 1800 Euro. Das sollen Stahlkoche­r wahlweise in sechs zusätzlich­e Urlaubstag­e umwandeln können. In der Bekleidung­sindustrie will die IG Metall auch solche Wahloption­en erreichen. In der Chemieindu­strie soll darüber ebenfalls gesprochen werden. Man will den Trend der Zeit nicht verpassen.

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FOTO: DPA Warnstreik der IG Metall Anfang 2018: Fast 200 000 Beschäftig­te der Metall- und Elektroind­ustrie haben sich laut Gewerkscha­ft dafür entschiede­n, 2019 lieber acht zusätzlich­e freie Tage zu nehmen statt mehr Geld.

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