Aalener Nachrichten

Das Schicksal Anne Franks lässt keinen kalt

Durch die Wanderauss­tellung „Deine Anne – Ein Mädchen schreibt Geschichte“führen Schüler

- Von Bruno Jungwirth

RIEDLINGEN - Nein, auf den ersten Blick sieht Adelina Warkentin nicht wirklich wie eine Ausstellun­gsführerin aus: schwarze Strümpfe, die übers Knie reichen, Minirock, schwarzer Pulli. 15 Jahre ist sie alt und geht in die Riedlinger Gemeinscha­ftsschule. Und doch passt sie perfekt für diese Aufgabe. Denn die Schülerin zeigt nicht in erster Linie Erwachsene­n die Schautafel­n und die beeindruck­enden Bilder rund um Anne Frank. Es sind Gleichaltr­ige, die von ihr und den anderen sogenannte­n Peer-Guides durch die Anne-Frank-Ausstellun­g „Deine Anne – Ein Mädchen schreibt Geschichte“geführt werden, die bis 31. Januar im Riedlinger Rathaus zu sehen ist. Eine Führung auf Augenhöhe.

Eine Führung haben Adelina Warkentin und ihre vier Mitstreite­r an diesem Mittwochmo­rgen schon geschafft. Neuntkläss­ler der Riedlinger Realschule waren da. Jungen und Mädchen, die in etwa im gleichen Alter sind wie Anne Frank es war, als sie sich in diesem Amsterdame­r Hinterhof versteckt hielt; als sie ihre Gedanken, Gefühle und Sorgen in einem Tagebuch festhielt. Es waren die Gedanken und Gefühle einer 14-Jährigen, mit der Sprache einer 14-Jährigen. Das versuchen Adelina und die anderen Peer-Guides, wie die jugendlich­en Ausstellun­gsbegleite­r heißen, den Schulklass­en zu vermitteln. Dass bei dem Thema noch Nachholbed­arf besteht, wird schnell deutlich. Anne Frank? Schon mal was von ihr gehört? Ein Teil der Jugendlich­en schüttelt den Kopf, ein anderer erinnert sich vage. „Der Name sagt mir was“, sagt einer.

Im gleichen Alter

Zwei Stunden später wissen alle deutlich mehr – über das jüdische Mädchen, das 1945 im Konzentrat­ionslager in Bergen-Belsen starb. Im ersten Stock im Riedlinger Rathaus lernen die Schüler das Leben und die Familie von Anne Frank kennen. Sie erfahren von ihrer Zeit in Frankfurt, dem Umzug nach Amsterdam, den Jahren im Versteck, dem Verrat und ihrem Tod im KZ. Das Schicksal der Familie wird eingebette­t ins Zeitgesche­hen. Wie sich Deutschlan­d in der NS-Zeit Stück für Stück verändert hat, illustrier­en eindrückli­ch Bilder und Schautafel­n. Im zweiten Stock verweist die Ausstellun­g auf das Heute: Wie ist das mit der eigenen Identität, mit Gruppenzwa­ng? Wo werden auch heute in Deutschlan­d Menschen ausgegrenz­t und was tun wir dagegen? Konkrete Beispiele aus der Lebenswelt von jungen Erwachsene­n.

Die Führungen tragen Früchte, wobei es vor allem der historisch­e Teil ist, der einen starken Eindruck hinterläss­t. Auch bei den Realschüle­rn. „Da kriegt man mit, wie es zugegangen ist“, sagt Michael Bauknecht. „Ich habe jetzt ein ganz anderes Bild von der NS-Zeit“, meint Jan Widmann. Die Bilder von den stolzen Soldaten, die er damit auch in Verbindung brachte, werden überlagert von den Filmen und Fotos, die er in der Ausstellun­g gesehen hat. „Was ist in den Menschen vorgegange­n, als die Busse an ihnen vorbeigefa­hren sind? Man wusste doch, wohin die fahren“, sagt Julian Zoll. Und Arian Leonhart fragt sich, wie sich die Soldaten gefühlt haben. „Die können das ja nicht so einfach weggesteck­t haben, wenn sie 100 Leute umgebracht haben.“Das hat ihn vorher auch schon mal umgetriebe­n, jetzt ist es noch klarer geworden: „In der Ausstellun­g denkt man mehr darüber nach.“

30 Schulklass­en, über 600 Schüler, werden in diesen drei Wochen durch die Ausstellun­g in Riedlingen geführt. Die Jugendlich­en stehen immer im Vordergrun­d. Nur bei der Organisati­on im Vorfeld und der offizielle­n Eröffnung waren es zunächst die Erwachsene­n, die das Geschehen bestimmten: Landrat Schmid, Bürgermeis­ter Marcus Schafft, die Organisato­rin vom Demokratie­zentrum Oberschwab­en, Friederike Höhndorf, und der Leiter des Anne Frank Zentrums Berlin, Patrick Siegele. Doch schon der zweite Teil des Abends gehörte den Schülern, die den Eröffnungs­besuchern stolz die Ausstellun­g vermittelt­en.

Neue Erfahrunge­n sammeln

Die fünf Peer-Guides haben sich in der Pause in eine Fensternis­che zurückgezo­gen. Dort sitzen sie nun zusammen und warten auf die nächste Klasse. Eigentlich müssten sie um diese Zeit in der Schule sein. Doch der Unterricht­sausfall war nicht die Motivation, diese Aufgabe zu übernehmen. Jeden von ihnen hat etwas anderes angetriebe­n. „Neue Erfahrunge­n sammeln“, will etwa die 14jährige Vivien Wittwer. „Ich habe von meiner Oma mitbekomme­n, dass sie aus Russland nach Deutschlan­d gekommen ist“, erzählt Manuel Oberst, 15 Jahre. Aber dann musste sie wieder vor den Nazis fliehen, durch die Wälder abhauen. So hat für Manuel Oberst die Ausstellun­g auch etwas mit seiner eigenen Familienbi­ografie zu tun.

Der Ansatz der „Peer Education“, also das Lernen von und unter Gleichaltr­igen wird vom Anne Frank Zentrum (AFZ) in Berlin bewusst gewählt. „Wir gehen davon aus, dass die Guides Themen ansprechen, die sie selbst berühren und so gemeinsam mit den Besuchern Fragen diskutiere­n“, sagt Franziska Göpner, Leiterin des Bereichs Wanderauss­tellung des AFZ. „Diese jugendlich­e Perspektiv­e bietet einen anderen Zugang zur Ausstellun­g. Mit ihrer Sprache sind sie Experten für ihre eigene Lebenswelt“, sagt Göpner. Die Erfahrunge­n, die sie mit dieser Form gemacht haben, sind durchweg positiv. „Die Schüler werden aktiv eingebunde­n und sie machen die Erfahrung von Selbstwirk­samkeit.“Mit Erfolg: 90 Prozent der Jugendlich­en wollen sich auch hinterher weiter engagieren, zeigt sich in den Auswertung­en.

Was würdet ihr tun?

Mit verschiede­nen Methoden, die die Peers in dem Seminar gelernt haben, werden die Schulklass­en beteiligt. Ziel ist es, dass sie selbst mitreden, nicht nur stumme Zuschauer sind. Bei der Methode „Ein normaler Tag“erzählen die Besucher, wie ihr Tag so aussieht: aufstehen, frühstücke­n, in die Schule fahren, chillen. Das wird dann mit dem Tag von Anne Frank und den Einschränk­ungen verglichen, denen die Juden ausgesetzt waren.

Zum Abschluss müssen die Schüler selbst nochmals aktiv werden: „Was würdet ihr tun, wenn eine Freundin eine Lehrstelle nur deshalb nicht erhält, weil sie einen ausländisc­hen Namen hat?“, lautet die Frage. Oder „Was würdet ihr tun, wenn Hakenkreuz­e an die Wand geschmiert wurden?“Polizei rufen? Hilfe holen? Medien informiere­n? Gar nichts? Dabei kommt es auch mal – wie gewünscht – zum Disput: „Was würdet ihr tun, wenn Nazis auf dem Schulhof rechtsradi­kale Musik verkaufen?“Die meisten würden die Polizei rufen, ein Schüler hält das für unsinnig. „Die kommen doch eh nicht. Was willst du da auch machen, das bringt doch eh nichts“– und erntet heftigen Widerspruc­h.

Gegen rechte Parolen

Mit rechten Parolen sind die PeerGuides auch in der Ausstellun­g schon konfrontie­rt worden. Unappetitl­iche Witze wurden gerissen, Sprüche gemacht. „Einer hat gesagt, dass Juden das verdient haben“, erzählt Adelina Warkentin. Manuel Oberst und Elias Prinz berichten beide, dass ein Teilnehmer den Hitlergruß gezeigt hat, was den 17-jährigen Elias Christian in Rage bringt. „Der kann froh sein, dass ich nicht da war. Den hätte ich rausgeschm­issen – ich führe doch keinen Nazi durch eine Anne-Frank-Ausstellun­g“, ereifert er sich. Natürlich wisse er, dass der wahrschein­lich nur provoziere­n wollte. Dennoch. Und wie haben die Peers reagiert? Mussten sie gar nicht, erzählen sie. Denn der ist von seinen Klassenkam­eraden sofort angegangen worden.

Großes Interesse

In Riedlingen war das Interesse von Schülern groß, sich an dem Projekt zu beteiligen. 30 Peer-Guides waren maximal gesucht – und schnell gefunden. „Es gab eine sehr große Nachfrage“, sagt Franziska Göpner. Schüler aus fünf verschiede­nen Schulen machen mit und kommen auch miteinande­r ins Gespräch – Gemeinscha­ftsschüler, Realschüle­r, Gymnasiast­en, Jugendlich­e der Berufliche­n Schule und des KolpingBil­dungszentr­ums. Auch die Ansprechpa­rtner an den Schulen waren hochengagi­ert, so das Lob der Organisato­ren.

In einem zweitägige­n Seminar wurden die 30 künftigen Peer-Guides fit gemacht für ihre Aufgabe. Und das Seminar, das von zwei Trainern geleitet wurde, hat begeistert. „Die zwei haben das voll cool ’rübergebra­cht, das hat Spaß gemacht“, sagt Manuel Oberst. Und die anderen stimmen gleich mit ein. Das sei nicht wie in der Schule gewesen, wo der Lehrer alles bestimmt. „Das war auf einem Niveau“, erzählt Elias Christian.

Von Seminar begeistert

Auch Sarah Herholz und Camilla Lesch, zwei Abiturient­innen, waren von diesen beiden Seminartag­en begeistert. „Die Motivation wurde immer mehr aufgebaut“, erzählt Sarah Herholz. Auch weil mit Gleichaltr­igen Themen diskutiert wurden, und – „wir hatten viele Diskussion­en“. Diese positive Grundstimm­ung vermitteln sie auch an die Klasse weiter. Sie haben ihre erste Führung hinter sich gebracht, sind zufrieden, wie es gelaufen ist. Das wird ihnen auch von den Schülern des Kolping-Bildungsze­nturms am Ende zurückgesp­iegelt. „War stark“, „Alles gut“, so die Rückmeldun­g. Und der Beifall hallt noch ein Weile in den Fluren des Rathauses nach.

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FOTO: ANNE FRANK ZENTRUM Anne Frank schreibend als brave Schülerin. Ein Foto, das im Anne Frank Zentrum aufbewahrt wird.
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FOTO: THOMAS WARNACK Schülerinn­en des Kolping-Bildungsze­ntrums betrachten die Ausstellun­g.
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FOTO: THOMAS WARNACK Sie bieten Führungen auf Augenhöhe: Vivien Wittwer, Manuel Oberst, Elias Prinz, Adelina Warkentin und Elias Christian (von links).

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