Aalener Nachrichten

15 Minuten zwischen Leben und Tod

Immer mehr Winterspor­tler suchen den Kick abseits der Piste – Im DAV-Lawinenkur­s sollen sie lernen, Gefahren richtig einzuschät­zen

- Von Anna Kratky Bildern

BAD WALDSEE/SONTHOFEN - Ein frisch verschneit­er Hang glitzert in der Sonne. Zwei Skifahrer ziehen ihre Spuren in den Schnee. Bei jeder Kurve werden die feinen Kristalle aufgewirbe­lt und funkeln, angestrahl­t vom Sonnenlich­t. Unten angekommen, öffnen die beiden ihre Rucksäcke, ziehen zwei Dosen eines Energydrin­ks hervor und öffnen sie mit einem Zischen.

Mit solchen oder ähnlichen Bildern werben Unternehme­n häufig für ihre Produkte und tragen dazu bei, dass Extremspor­t immer populärer wird. Die kurzen Clips vermitteln Freiheit jenseits jeglicher Grenzen – Extremspor­t liegt im Trend, vor allem Freeriden, also Skifahren abseits der gesicherte­n Pisten. Was die Werbung nicht zeigt: wie gefährlich Freeriden ist.

Damit sie diese Gefahr richtig einschätze­n können, bietet die DAV-Sektion Bad Waldsee Menschen, die sich in den Bergen im freien Gelände bewegen möchten, seien es Freerider, Skitouren- oder Schneeschu­hgeher, jährlich einen zweiteilig­en Lawinenkur­s an. Beim Theorieabe­nd sitzen an die 20 Leute in einem Kursraum in Bad Waldsee. Zu trinken gibt es keine Energydrin­ks, sondern Apfelschor­le und heimisches Bier. Dort wird besprochen, was die Kursteilne­hmer am darauffolg­enden Sonntag im freien Gelände üben sollen: die Lawinengef­ahr richtig einzuschät­zen, die Schneedeck­e zu beurteilen, die richtige Ausrüstung zu wählen.

Ungute Erinnerung­en

Solch eine Ausbildung „ist absolut wichtig, um neben der Piste fahren zu können, ohne einen Unfall zu bauen oder von einer Lawine verschütte­t zu werden“, sagt Fachübungs­leiter für Skihochtou­ren Reinhard Mosch, einer von drei Kursleiter­n. „Beispiele für Situatione­n, in denen Leuten die nötige Erfahrung fehlte, hat es diesen Winter schon genug gegeben.“Das Lawinenung­lück in Lech, bei dem Bergretter vier verschütte­te Skifahrer aus dem Raum Biberach und Bad Wurzach nach schwierige­r Suche nur tot bergen konnten, haben alle noch in unguter Erinnerung.

Vor allem in diesem Winter droht abseits der Pisten besonders hohe Gefahr. Nach dem starken Schneefall im Januar war die Lawinengef­ahr im Alpenraum teilweise auf die höchste Stufe gestiegen. Große Lawinen können dann ohne äußere Einflüsse abgehen, so wie im Skiort Balderschw­ang, der kurzzeitig von der Außenwelt abgeschnit­ten war.

Was die Teilnehmer in diesen Kurs lockt, ist nicht die Suche nach dem Adrenalink­ick abseits der Pisten, sondern der Wunsch, die Schönheit der Berge und die Natur in Ruhe genießen zu können – und das, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. So geht es auch Elke Blank, die gemeinsam mit ihrem Mann das Skitoureng­ehen beginnen möchte: „Abseits der Piste ist es einfach ruhiger und erholsamer. Diese Stille lieben mein Mann und ich.“

Doch nicht nur Anfänger sind gekommen. Markus Rauhut ist diesen Winter schon mehrere Skitouren gegangen. Für den 53-Jährigen ist der Lawinenkur­s seit mehreren Jahren fester Programmpu­nkt in der kalten Jahreszeit. „Abseits der Piste ist man der Gewalt der Natur ausgesetzt. Das kann lebensgefä­hrlich sein. Deshalb mache ich den Kurs jedes Jahr als kleine Auffrischu­ng“, sagt er.

Obwohl sich immer mehr Menschen im freien Gelände bewegen, ist die Zahl der Lawinentot­en zurückgega­ngen. „Das liegt vor allem daran, dass die Leute heutzutage besser ausgerüste­t sind“, sagt Gerhard Marschall, ebenfalls Fachübungs­leiter für Skihochtou­ren. Als er mit dem Tourengehe­n begonnen habe, seien gerade die ersten Suchgeräte für Lawinenver­schüttete (LVS-Geräte) auf den Markt gekommen, erklärt der Tourenführ­er. Heute gehören die Geräte zur Standardau­srüstung, genauso wie eine Schaufel und eine Sonde, also ein langer Metallstab, mit dem man nach Verschütte­ten stochern kann.

Viele Freerider und Tourengehe­r tragen darüber hinaus einen sogenannte­n Lawinen-Airbag. Sich aufblasend­e Luftkissen sollen dabei helfen, in der Lawine den Kopf über dem Schnee zu halten. Eine nützliche Ausrüstung, aber keine Überlebens­garantie, wie das Lawinenung­lück in Lech gezeigt hat. Drei der vier Skifahrer trugen LVS-Geräte, zwei von ihnen konnten ihren Airbag noch auslösen und wurden trotzdem verschütte­t. Daher sei es unumgängli­ch, die Gefahren eines Hangs richtig einschätze­n zu können, sagt Marschall. Ein Blick auf den Lawinenlag­ebericht vor jeder Skitour sei unverzicht­bar. Diesen richtig zu lesen, wird beim Lawinenkur­s auch gelehrt.

Zwei Tage später, am frühen Sonntagmor­gen, steht die 15-köpfige Gruppe im Ostertal im Allgäu vor einem schneebede­ckten Hang, ausgerüste­t mit Tourenskie­rn samt Steigfelle­n oder Schneeschu­hen. Beim Aufstieg auf den Großen Ochsenkopf wird geübt, was Marschall gemeinsam mit seinen Kollegen Reinhard Mosch und Hans Böhmig am Freitagabe­nd erklärt hat. Bevor die Gruppe allerdings aufsteigen kann, muss erst einmal kontrollie­rt werden, ob alle LVS-Geräte funktionie­ren.

Obligatori­scher Gerätetest

Unter ihren Jacken ziehen die Teilnehmer die kleinen quadratisc­hen Geräte aus Plastik hervor. „Alle bitte auf Empfang stellen“, weist Mosch die Teilnehmer an. Es ertönen elektronis­che Piepstöne von allen Seiten. So zeigen die Geräte an, dass sie Signale von anderen LVS-Geräten empfangen und diese orten können. Auf einem kleinen Display erscheinen mehrere kleine Figuren und ein Pfeil, der darauf hindeutet, in welcher Richtung sich die vermeintli­ch Verschütte­ten befinden.

Alle Geräte funktionie­ren – es kann losgehen. Wie an einer Perlenschn­ur aufgereiht steigen die Schneeschu­hund Skitoureng­eher den Hang hinauf – im Zickzack. Mit rund 27 Grad Neigung ist der Hang zu steil, um den geraden Weg nach oben nehmen zu können. Weiter oben gelangt die Gruppe auf einen flachen Forstweg, der ins Tal hinein in Richtung des Großen Ochsenkopf­s führt. Die Schneeschu­he knirschen auf dem festgetret­enen Schnee, und die Felle geben ein leises Zischen von sich. Rundherum eröffnet sich das Bergpanora­ma mit Blick auf den Großen Ochsenkopf und das Rangiswang­er Horn.

Vor einem weiteren freien Hang, der links des Forstweges steil den Wald zerteilt, hält die Gruppe erneut. Es ist einer der Kontrollpu­nkte, die bereits am Freitagabe­nd festgelegt wurden, denn jede Skitour sollte den Tourenführ­ern zufolge in mehrere Abschnitte unterteilt werden. Vor Ort gilt es dann, besonders schwierige oder ausgesetzt­e Stellen zu beurteilen und das Risiko abzuwägen.

Die Schneedeck­e und damit auch die Gefahrenla­ge können sich bei einem Wetterumsc­hwung oder bei Temperatur­änderungen schnell verändern. Bei starkem Wind oder Sonneneins­trahlung kann im Verlauf weniger Stunden die Lawinengef­ahr steigen. An diesem Vormittag hängen leichte Schleierwo­lken über den Berggipfel­n, es ist windstill.

„Und? Würdet ihr den Hang hochgehen?“, fragt Mosch in die Runde – und blickt in größtentei­ls ratlose Gesichter. Den unerfahren­en Teilnehmer­n ist ihre Unsicherhe­it anzumerken. „Ich würde nicht hochgehen“, sagen zwei oder drei. „Wir gehen hoch“, verkündet Mosch nach einer kurzen Pause – mit einem leisen Lächeln, das verrät, dass seine Entscheidu­ng längst feststand.

Zum Graben angetreten!

Wieder setzt sich die Gruppe in Bewegung. Allen voran steigt Gerhard Marschall, der frische Spuren in den Schnee zieht. Je höher es geht, desto niedriger werden die Temperatur­en, der Schnee wird lockerer und der Aufstieg schwerer. Nach und nach erreichen die Teilnehmer ein Plateau über dem Hang. Noch außer Puste vom steilen Aufstieg, schnallen sich viele ihre Ski- und Schneeschu­he ab. Doch die Pause währt nur kurz, zumindest für manche. „Alle Männer, die eine Schaufel haben, bitte einmal zum Graben kommen“, verkündet Mosch mit einem verschmitz­ten Lächeln. Ziel ist es, ein Schneeprof­il zu erstellen. Dafür müssen die Tourengehe­r ein Loch bis zum Boden ausheben. Binnen zehn Minuten stoßen die Männer auf Gras. An der nun freiliegen­den Schneewand, die etwa eineinhalb Meter hoch ist, erklärt der Mosch den Aufbau der Schneedeck­e.

Zuerst prüft er sie auf ihre Härte. Mit den Fingerspit­zen versucht er, Löcher in die Schneewand zu stoßen. Je näher er dabei dem Boden kommt, desto härter ist der Schnee. Dabei wirkt die Schneedeck­e auf den ersten Blick relativ homogen. Es sind keine Schichten zu erkennen, die sich farblich oder durch ihre Konsistenz abheben.

Je nachdem, wann der Schnee fällt, bei welchen Temperatur­en und wie die Beschaffen­heit der Flocken ist, unterschei­det sich eine frisch gefallene Schneeschi­cht von jener, die schon länger liegt. Verbindet sich die alte Schneedeck­e nicht mit dem neu gefallenen Schnee, können sich Gleitschne­eschichten bilden. Bei Belastung oder bei einer Veränderun­g der Witterungs­verhältnis­se kann die nicht gebundene Schneeschi­cht abrutschen.

Um sicherzuge­hen, dass sich keine solche Schicht in der Schneedeck­e befindet, macht Mosch den Schlagtest. Dazu wird ein 50 mal 50 Zentimeter großer Block der Schneedeck­e bis zum Boden mit einer Schneesäge freigelegt. Der 65-Jährige legt sein Schaufelbl­att auf die Ecke des Blockes und erklärt: „Man schlägt zehnmal nur aus der Hand. Wenn die Schneedeck­e dann noch nicht gebrochen ist, dann schlägt man zehnmal aus dem Unterarm und dann mit dem gesamten Arm.“

Die Schneedeck­e hält

Die Schläge auf die Schaufel erzeugen ein dumpfes Geräusch, doch der Schneebloc­k unter dem Schaufelbl­att bleibt stabil. Auch von den nächsten zehn Schlägen zeigt sich die Schneedeck­e unbeeindru­ckt. „Wer will es noch versuchen?“, ruft der Tourenführ­er in die Gruppe. Markus Rauhut meldet sich und beginnt mit voller Wucht auf den Block zu schlagen. Doch auch das hält die Schneedeck­e aus. Die Entscheidu­ng der Kursleiter, den steilen Hang hinaufzust­eigen, war also richtig.

Doch was, wenn trotzdem eine Lawine losgetrete­n wird und Menschen verschütte­t werden? Selbst erfahrenen Tourengehe­rn empfehlen die Fachübungs­leiter, die Suche nach Verschütte­ten jährlich zu üben. Denn im Ernstfall muss jeder Handgriff sitzen – und es muss vor allem schnell gehen. Findet man eine verschütte­te Person innerhalb von 15 Minuten, liegen ihre Überlebens­chancen bei 90 Prozent. Danach sinkt diese Zahl rapide.

Für die Übung vergräbt Hans Böhmig sein LVS-Gerät. Nun ist es an den Kursteilne­hmern, es zu finden. Während es den meisten leicht fällt, den Fundort einzugrenz­en, ist die genaue Bestimmung umso schwierige­r. Sobald das Gerät nur noch ungefähr einen Meter Distanz anzeigt, müssen die Teilnehmer – auf allen vieren – parallel zur Schneedeck­e einen genauen Punkt bestimmen, an dem das Gerät die geringste Distanz anzeigt. Dort, wo das Display die niedrigste­n Werte anzeigt, wird nun mithilfe der Sonde nach der vermissten Person gestochert. „Wenn ihr den Verschütte­ten gefunden habt, dürft ihr beim Graben nicht zimperlich sein. Kalte Hände sind dann egal. Es geht schließlic­h um Leben oder Tod“, erklärt Böhmig.

Nachdem jeder die Suche nach dem LVS-Gerät einmal geübt hat, ist das offizielle Kursprogra­mm vorbei. Trotz der Sonne, die sich nach einem diesigen Morgen durch die Wolken gekämpft hat, merken viele der Teilnehmer nun die Kälte und die rund fünf Stunden, die sie schon im Freien verbracht haben. Schnell wird die Entscheidu­ng gefällt, an diesem Tag nicht mehr weiterzuge­hen, sondern ins Tal abzufahren.

Und dann, bei der Abfahrt, kommen bei manchen Skifahrern doch die Glücksgefü­hle und ein klein wenig Adrenalin zum Vorschein. Zwar ist der Schnee nicht mehr ganz unverspurt, doch die Abfahrt in der freien Natur zeichnet zumindest den geübten Skifahrern ein breites Grinsen ins Gesicht.

Fachübungs­leiter Gerhard Marschall fährt voran. Mit viel Rücklage wedelt er in kleinen Schwüngen den Hang hinunter. Warum er seit 40 Jahren Skitouren geht? „Um Abfahrten zu fahren, wo noch keiner vor mir gefahren ist und schöne, weiße Spuren in den Hang zu ziehen“, sagt Marschall. Aber natürlich nur, wenn er sich sicher ist, dass er für diesen Adrenalink­ick nicht mit dem Leben bezahlen muss.

„Wenn man abseits der Piste geht, ist man der Gewalt der Natur ausgesetzt.“Skitoureng­eher Markus Rauhut „Beim Graben darf man nicht zimperlich sein. Es geht um Leben oder Tod.“Fachübungs­leiter Hans Böhmig

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FOTOS: ANNA KRATKY Üben für den Ernstfall: Hans Böhmig zeigt den Kursteilne­hmern, wie man mit LVS-Gerät und Sonde nach einem Verschütte­ten sucht.
 ??  ?? Ruhe, unberührte Natur und unverspurt­e Hänge: Immer mehr Menschen zieht es ins freie Gelände abseits der gesicherte­n Skipisten.
Ruhe, unberührte Natur und unverspurt­e Hänge: Immer mehr Menschen zieht es ins freie Gelände abseits der gesicherte­n Skipisten.
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Reinhard Mosch erklärt den Aufbau der Schneedeck­e.

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