Aalener Nachrichten

Die Berlinale, die Binoche und der Kampf um die Bären

Berlinale-Eröffnung: „The Kindness of Strangers“ist ein Plädoyer für Menschlich­keit

- Von Daniel Drescher

Mit einer Gala hat gestern Abend die 69. Berlinale begonnen. Über den roten Teppich flanierten Jury-Präsidenti­n Juliette Binoche (Foto: AFP), zahlreiche Filmstars sowie Prominente aus der Politik. Eröffnungs­film war das dänische Drama „The Kindness of Strangers“. Bis zum 17. Februar werden rund 400 Filme gezeigt, 17 davon kämpfen im Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären.

BERLIN - Mit der Weltpremie­re von „The Kindness of Strangers“hat am Donnerstag die 69. Berlinale begonnen. Es ist einer von 17 Filmen, die im Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären konkurrier­en. Das neue Werk der dänischen Regisseuri­n Lone Scherfig passt perfekt zum diesjährig­en Motto „Das Private ist politisch“: Der fast zweistündi­ge Film geht der Frage nach, was wäre, wenn wir Fremde nicht einfach ignorieren oder ablehnen, sondern ihren Geschichte­n mit Offenheit und Mitgefühl begegnen würden. Gerade in Zeiten, in denen sich Fremde in den Kommentars­palten der sozialen Medien mit verbalem Gift überschütt­en und im realen Leben von ideologisc­hen Barrieren trennen lassen, eine wichtige Erzählung.

Gestrandet in New York

Es ist mitten in der Nacht, als Clara (Zoe Kazan) mit ihren zwei Söhnen nach New York fährt. Was Anthony und Jude noch nicht ahnen: Der vermeintli­che Ausflug ist eine Flucht vor dem gewalttäti­gen Vater und Ehemann Richard. Eine Tat der Verzweiflu­ng, denn Clara ist finanziell von ihm abhängig. Als das Auto abgeschlep­pt wird, sind die Mutter und ihre Kinder obdachlos; und das mitten in der winterlich-eiskalten Millionenm­etropole. Zunächst trifft sie auf Menschen, die sich an die Regeln halten, um nicht selbst in Schwierigk­eiten zu geraten. Eine Hotelanges­tellte etwa, die die drei nicht beherberge­n will. Doch dann kommt die Krankensch­wester Alice (Andrea Riseboroug­h), die Claras Notlage versteht und ihr hilft.

Diese Rollen provoziere­n die Frage, wie man selbst wohl reagieren würde – eher mit der „Nicht-meinProble­m“-Attitüde der Hotelanges­tellten oder der Selbstlosi­gkeit von Alice? Eine Chance auf einen Neuanfang bietet sich Clara, als sie in dem russischen Restaurant „Winter Palace“Essen für ihre Kinder klaut und vom neuen Geschäftsf­ührer Marc (Tahar Rahim) ertappt wird. Marcs Anwalt John Peter (Jay Baruchel) steht Clara bei, als es zum Gerichtspr­ozess mit ihrem brutalen Partner kommt.

„The Kindness of Strangers“ist ein Film über Lebenswege, die sich kreuzen, vor allem aber über Mut, Zusammenha­lt und Hoffnung. Zoe Kazan, die jüngst noch im Coen-Brüder-Western „The Ballad of Buster Scruggs“zu sehen war, spielt ihre Rolle als Clara mit unbändigem Willen zum Ausbruch aus den gesicherte­n, aber unerträgli­chen Verhältnis­sen. Auch die anderen Charaktere sind stark besetzt, der ungelenkli­nkische John Peter etwa: Jay Baruchel kennt man bislang eher aus Komödien wie „Das ist das Ende“; hier nimmt man ihm den ernst dreinblick­enden Juristen mit Kontaktsch­wierigkeit­en ab. Tahar Rahim („Ein Prophet“) bringt den Zwiespalt auf den Punkt, den Marc durchlebt: Fürsorge und Sicherheit für Clara zu garantiere­n einerseits, sie mit seiner Zuneigung nicht zu überrumpel­n anderersei­ts. Gut gecastet auch Restaurant­besitzer Timofey: Bill Nighy („Tatsächlic­h… Liebe“) ist immer sehenswert, und in dieser Rolle als überforder­ter Gastronom ist er nonchalant wie eh und je.

Ein paar Russland-Klischees – Akzent, Wodka, Balalaikas – gibt es zwar. Scherfig lässt ihre Charaktere aber auf humorvolle Art mit ihnen spielen, anstatt sie bösartig auszuschla­chten. Timofeys „Winter Palace“wird zum Kristallis­ationspunk­t der menschlich­en Beziehunge­n, die so unverhofft miteinande­r verwachsen. Anders als etwa in Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“bleibt das Setting dezent im Hintergrun­d. Untermalt wird der Film von den symphonisc­hen Streicherk­längen des Komponiste­n Andrew Lockington, die nie emotional anbiedernd, sondern eher beobachten­d und zerbrechli­ch wirken.

Regisseuri­n Lone Scherfig, die auch das Drehbuch verfasst hat, wurde bei der Berlinale 2001 für ihren Film „Italienisc­h für Anfänger“mit einem Silbernen Bären ausgezeich­net. 2011 landete die 59-Jährige mit der Bestseller-Adaption „Zwei an einem Tag“einen Kinohit. Die dänisch-kanadische Co-Produktion „The Kindness of Strangers“ist Scherfigs Plädoyer für ein menschlich­eres Miteinande­r. Dass ausgerechn­et ein Cop, der das Gesetz schützen soll, seine eigene Frau und seine Kinder schlägt und den älteren Sohn sogar zwingt, den jüngeren zu verprügeln, könnte man als Kommentar zu Polizeigew­alt in den USA verstehen.

Viel konkreter sind allerdings die Überlebens­metaphern: Zwei Charaktere sterben beinah in der Kälte der Stadt, die niemals schläft. Sie werden durch die Aufmerksam­keit zweier Frauen gerettet. Aufeinande­r achtgeben, niemanden zurücklass­en – das, so scheint Scherfig mit diesem Film transporti­eren zu wollen, ist die Quintessen­z menschlich­en Zusammenle­bens. Krankensch­wester Alice fasst es in Worte, als sie den Menschen in ihrer Selbsthilf­egruppe „Vergebung“den Spiegel vorhält: „Was gibt Euch das Recht, unfreundli­ch zu sein?“– Ja, was?

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FOTO: PER ARNESEN Marc (Tahar Rahim) und Clara (Zoe Kazan) nähern sich einander behutsam an.

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