Aalener Nachrichten

Wenn Mama wieder getrunken hat

Jana vom Bodensee hat Alkoholsuc­ht in der Familie am eigenen Leib erfahren – Jetzt will die 28-Jährige Betroffene­n helfen und dem Problem ein Gesicht geben

- Von Nico Pointner

STUTTGART (lsw) - Jana kann sich noch gut an ihre Kindheit erinnern – an den Schulweg, an dieses beklemmend­e Gefühl. „Die Angst war allgegenwä­rtig“, erzählt sie. „Was ist, wenn ich nach Hause komme?“Würde sich ihre Mama freuen, für sie Mittagesse­n kochen? Mit ihr Hausaufgab­en machen? Oder würde sie wieder betrunken auf dem Sofa liegen, nicht ansprechba­r sein für sie und ihre drei Jahre jüngere Schwester? Die Mutter war häufig betrunken. Zwar habe sie versucht, den Alkoholkon­sum vor den Kindern zu verbergen, aber immer wieder habe sie die leeren Weinflasch­en gefunden, sagt Jana. „Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht getrunken hat.“

Bundesweit leben nach Schätzunge­n von Experten mehr als 2,6 Millionen Kinder unter 18 Jahren mit alkoholkra­nken Eltern zusammen. Allein in Baden-Württember­g sind schätzungs­weise 150 000 Kinder unter 15 Jahren betroffen. „Ich bin eins von jedem siebten Kind“, so stellt Jana vom Bodensee sich bei einer Pressekonf­erenz in Stuttgart vor. Dort warnen Wohlfahrts­verbände am Freitag, dass Kinder suchtkrank­er Eltern häufig mit ihren Problemen alleingela­ssen werden.

„Absolute Nichtpräse­nz“

Jana ist heute 28 Jahre alt. Auch sie habe sich damals oft einsam gefühlt. Ihr Vater, Schichtarb­eiter, habe zwar viel aufgefange­n, aber eine Mutterfigu­r habe dennoch oft gefehlt. Gewalt habe sie nicht erfahren, aber „absolute Nichtpräse­nz“, wie sie es formuliert. „Als Mutter war sie nicht ansprechba­r.“Jana erzählt, sie habe bis heute nicht verstanden, wie es so weit kommen konnte. Ihre Mutter war ihrer Meinung nach glücklich verheirate­t, sie und ihre Schwester seien Wunschkind­er gewesen, erzählt sie. Eigentlich eine geborgene Kindheit. „Dann kam es zum Bruch, Mama war abhängig.“

Jana erzählt von der Hilflosigk­eit, die Kinder suchtkrank­er Eltern erleiden müssen. Sie erzählt von der Ausgrenzun­g, der Stigmatisi­erung. Sie sei in einem kleinen Dorf am Bodensee groß geworden, jeder kenne dort jeden, erzählt sie. Einige Menschen hätten von dem Problem gewusst, aber trotzdem geschwiege­n. Sie erzählt, wie ihre Freunde plötzlich nicht mehr mit ihr spielen durften, sie nicht mehr eingeladen wurde. Wie sie die Schule wechseln musste. „Auf die Hauptschul­e bin ich nicht gekommen, weil ich doof war, sondern weil ich andere Probleme hatte.“

Als sie ungefähr zehn Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern, der Vater erhält das Sorgerecht, die Mutter beginnt die erste Entwöhnung­stherapie. Sie schafft es trotzdem nicht aus der Sucht, wird wieder rückfällig. Mit elf findet Jana schließlic­h mit ihrer Schwester zu einer Gruppe für Kinder suchtkrank­er Eltern, ist erstmals unter Gleichgesi­nnten, kann offen über ihre Probleme reden. „Die Kinder haben bedingungs­los verstanden, was zu Hause los war“, erzählt sie. „Ich konnte für zwei bis drei Stunden einfach mal Kind sein.“

Dort lernt sie, dass das Problem nicht an ihr liegt, auch nicht an ihrer Mutter – sondern am Alkohol. Sie habe immer zwei Persönlich­keiten in ihrer Mutter gesehen, erzählt Jana. Die abhängige Frau auf dem Sofa. Und die Mama, die sie bedingungs­los liebt, so wie jedes Kind. Als Jugendlich­e suchte sie erneut das Gespräch, baute schließlic­h ein gutes Verhältnis auf. „Ich habe sie sehr nüchtern erlebt, konnte noch mal ganz viele Fragen klären“, sagt sie. Vor zwei Jahren dann starb ihre Mutter. Jana sagt, sie könne ihre Vergangenh­eit nicht abschüttel­n, aber habe gelernt, damit zu leben.

Nach der Schule macht sie eine Ausbildung zur Erzieherin, nebenbei das Abitur, studiert schließlic­h Soziale Arbeit. Heute hilft sie in einer Beratungss­telle am Bodensee Menschen, die ein ähnliches Schicksal erleiden mussten. „Ich habe mich nach oben gekämpft“, sagte sie. „Wenn es irgendwas Gutes hat, dann, dass ich heute drüber sprechen kann und dem ein Gesicht geben kann.“

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FOTO: DPA Mama ist heute nicht so gut drauf.

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