Aalener Nachrichten

Alter Hass in neuen Schläuchen

Einen Abend lang tauscht sich Sascha Lobo mit anderen Experten in Ravensburg über Antisemiti­smus in digitalen Zeiten aus – Sie schließen mit Optimismus

- Von Sebastian Heinrich

RAVENSBURG - Der Tiefpunkt ist gegen 20 Uhr erreicht. Durch die Stuhlreihe­n im Foyer von Schwäbisch Media zieht ein feines Raunen, einige der Zuschauer schauen betreten nach unten. Es ist ja auch bedrückend, was ihnen Sascha Lobo gerade von der Bühne aus entgegenge­schleudert hat, in 60 Minuten Vortrag. „Anatomie des Hasses im Netz“, lautete der Titel. Lobo hat sich jetzt hingesetzt, die Podiumsdis­kussion beginnt. Und Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, fragt Lobo: „Welche Antidepres­siva haben Sie für mich?“

Medien und Antisemiti­smus: Es ist ein hässliches Thema, über das deutschlan­dweit bekannte Experten am Donnerstag­abend gut vier Stunden lang im Ravensburg­er Medienhaus doziert und diskutiert haben. Lobo ist gekommen, einer der versiertes­ten Autoren, wenn es um die gigantisch­e Zukunftsfr­age geht, was die Digitalisi­erung mit Politik und Gesellscha­ft macht. Michael Blume ist da, Religionsb­eauftragte­r und Antisemiti­smusbeauft­rager des Landes Baden-Württember­g. Er veranstalt­et den Abend. Autor Timo Büchner, der in die Abgründe der Neonazisze­ne gestiegen ist. Luisa Lehnen, Historiker­in und eine der Antreiberi­nnen des geplanten Lernorts Kislau in Baden. Dort soll Schülern nähergebra­cht werden, wie Deutschlan­d nach 1918 von der Demokratie in die mörderisch­e Diktatur abgleiten konnte. Antisemiti­smus, Rassismus, schierer Hass: Das Thema brennt vielen in der Region unter den Nägeln. Etwa 150 Zuhörer sind gekommen, vom Schüler bis zum Senior.

Blume erklärt, woher der Judenhass rührt, warum seit Jahrhunder­ten immer wieder diese Religionsg­emeinschaf­t Ziel mörderisch­er Gewalt wird. Er beginnt mit der biblischen Figur des Sem, von dem sich das Wort Antisemiti­smus ableitet – und der ein „Medienscha­ffender“war, wie Blume sagt, ein Antreiber der Alphabetis­ierung. Blume, der gerade ein Buch mit dem Titel „Warum der Antisemiti­smus uns alle bedroht“abgeschlos­sen hat, liefert Erklärungs­ansätze: Im Judentum hat Bildung seit jeher einen enormen Stellenwer­t, die jüdische Religion ist zukunftsop­timistisch, sie beinhaltet den Glauben an einen Erlöser. Daher, erklärt Blume, seien Juden seit jeher ein Feindbild für jene, die die Welt im Zerfall begriffen sehen und sich als Opfer einer verschwöre­rischen Elite.

Blume spricht darüber, warum in Zeiten von Medienumbr­üchen – von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Digitalisi­erung – Antisemiti­smus und andere Verschwöru­ngsmythen besonders stark in die Öffentlich­keit drängen. Er galoppiert von Themenpunk­t zu Themenpunk­t, eine halbe Stunde lang, so rasant, dass man sich bisweilen fragt, wo er noch Atempausen unterbring­t. Das funktionie­rt, weil sein Vortrag bestens strukturie­rt ist. Immer wieder lächelt Blume, liefert Ideen dazu, wie dem Hass beizukomme­n sein könnte. Er sagt: „Wir werden mit neuen Medien angegriffe­n.“Und wenig später: „Neue Medien sind großartig, ich liebe das Internet.“

Welches Potenzial in digitalen Medien steckt, wird danach deutlich: Vertreter von vier Projekten gegen Rassismus und Antisemiti­smus stellen ihre Arbeit vor: darunter das Projekt „Papierblat­t“, das Erinnerung­en Holocaust-Überlebend­er in Videos bewahrt – und sie Schülern über eine Webseite bereitstel­lt.

Danach spricht Lobo. Er seziert in ernüchtern­der Schärfe die Gründe dafür, dass manche Ecken sozialer Netzwerke von YouTube bis Facebook zur Kloake verkommen sind, voller hasstriefe­nder Memes und verschwurb­elter Pseudotheo­rien über angebliche Weltbeherr­scher. Lobo zeichnet den „tiefen Medienwand­el“nach, der die Welt in den nur zwölf Jahren seit der Vorstellun­g des iPhones 2007 erfasst hat – ausgelöst von der rasanten Verbreitun­g von Smartphone­s und dem gigantisch­en Wachstum sozialer Medien.

Wie die Öffentlich­keit zersplitte­rt

Lobo redet über „digitale Tribalisie­rung“, das Zersplitte­rn der digitalen Öffentlich­keit in kleine Gruppen. Er spricht über althergebr­achte, neu verkleidet­e antisemiti­sche Klischees, die dort verbreitet werden. Und die zu oft, wie im Fall des antisemiti­schen Terroransc­hlags von Pittsburgh im Oktober 2018, in mörderisch­e Gewalt münden. Es ist, so kann man Lobo verstehen, alter Hass in neuen Schläuchen. Am Ende sagt er: „Wir müssen schnellstm­öglich herausfind­en, wie wir diesen unglaublic­hen Hass reduzieren können.“

Schließlic­h die Diskussion. Sie verläuft wie ein Gruppenver­such, die von SZ-Chefredakt­eur Groth geforderte­n Antidepres­siva für Demokraten zu liefern. Lehnen, Mitinitiat­orin des Lernorts Kislau, spricht davon, wie wichtig und positiv digitale Öffentlich­keit für ihre Arbeit ist. Büchner, der sich seit Jahren im „Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber“engagiert und 2018 das Buch „Weltbürger­tum statt Vaterland“über Antisemiti­smus in rechter Rockmusik veröffentl­ich hat, spricht von den „megaguten Diskussion­en“, die er an Schulen führe. Lobo meint, im digitalen Zeitalter gelte mehr denn je, dass das Wort ein Schwert ist. Man müsse es jetzt „aus den falschen Händen reißen und im Sinne einer liberalen Demokratie anwenden.“Und Blume sagt: „Die anderen sind lauter, gröber. Aber diesmal schaffen sie es nicht. Diesmal kriegen sie unsere Demokratie nicht kaputt.“Es folgt der lauteste Applaus des Abends.

 ?? FOTO: DRESCHER ?? Antidepres­siva für Demokraten: Autor Sascha Lobo (re.) auf dem Podium neben dem Antisemiti­smus-Beauftragt­en Michael Blume.
FOTO: DRESCHER Antidepres­siva für Demokraten: Autor Sascha Lobo (re.) auf dem Podium neben dem Antisemiti­smus-Beauftragt­en Michael Blume.

Newspapers in German

Newspapers from Germany