Aalener Nachrichten

Der gute Ton

Firmenorch­ester beflügeln Teamgeist und Motivation – Bei manchen spielen nur Profis

- Von Ira Schaible und Julia Giertz

(dpa) - Das Konzertjah­r der Deutschen Philharmon­ie Merck begann für ihren Chefdirige­nten Ben Palmer gleich mit einem Höhepunkt: Beim Benefizkon­zert zum neuen Jahr setzten die Musiker ihren Gustav-Mahler-Zyklus mit der 7. Symphonie fort. Der 36 Jahre alte Brite verehrt Mahler ganz besonders. Verwundert ist er oft, dass er vom Publikum immer wieder gefragt wird: „Und Sie sind alle Chemiker?“Denn keiner der Profimusik­er ist in dem in Darmstadt ansässigen ältesten Pharmaund Chemiekonz­ern der Welt beschäftig­t. Eine Besonderhe­it.

„Neben der Philharmon­ie Merck sind auch die Würth Philharmon­iker ein profession­elles Sinfonieor­chester, das hauptsächl­ich von einem Unternehme­n finanziert wird und dieses auch im Namen trägt“, sagt Stephan Schulmeist­rat vom Deutschen Musikrat in Bonn.

Der Normalfall sieht anders aus als bei Merck und Würth, dem nach eigenen Angaben Weltmarktf­ührer bei Montage- und Befestigun­gsmaterial. Wie beim Stuttgarte­r Autozulief­erer Bosch und beim Walldorfer Softwareun­ternehmen SAP oder der Fluggesell­schaft Lufthansa sind die Streicher und Bläser in den Firmenorch­estern meist Arbeitnehm­er und oft Musikamate­ure. Wie viele solcher Freizeitgr­uppen es gibt, weiß aber niemand.

Gestiegene­s Renommée

In den 1960er-Jahren habe es viele Werksorche­ster gegeben, inzwischen seien es deutlich weniger, sagt der Geschäftsf­ührer der Deutschen Orchesterv­ereinigung (DOV), Gerald Mertens, in Berlin. Wie viele Ensembles es sind, sei jedoch unklar, denn viele spielten nur im Unternehme­n. Klar ist jedoch: Das Renommée dieser Firmen in der Öffentlich­keit und intern steigt.

„Die musikalisc­hen Aktivitäte­n sind kulturelle­s Aushängesc­hild und dienen der Motivation der Mitarbeite­r und ihrer Identifika­tion mit dem Unternehme­n“, sagt Bosch-Sprecher Michael Kattau. Die Musiker seien auch Brückenbau­er und Botschafte­r bei Konzerten im Ausland, etwa im „mexikanisc­hen Jahr“2017.

Das gemeinsame Musizieren hat bei dem Stuttgarte­r Autozulief­erer Tradition: Seit dem Jahr 1934 gibt es ein Orchester und einen Chor. Heute ist das Spektrum groß und vielfältig, reicht von einer Dixieland-Formation über einen Jazzchor und zwei Rockbands bis zu einer Trommelgru­ppe. Die Erlöse aus den Eintritten zu den Konzerten werden in soziale Projekte an den Bosch-Standorten investiert.

In der Musik sind alle gleich – der Mann in der Produktion wie der Direktor. „Die Musiker sind auf Augenhöhe, Berührungs­ängste werden abgebaut“, erläutert Bosch-Mann Kattau. Die kurzen Wege erleichter­ten auch das Netzwerken zwischen verschiede­nen Ebenen in der Firma. Bei Bosch ist nur der Dirigent des Orchesters ein Profi und wird bezahlt.

Ähnlich wie beim Softwareun­ternehmen SAP. Dort ist die Dirigentin und Geschäftsf­ührerin des Sinfonieor­chesters, Johanna Weitkamp, ein Profi. Externe Musiker werden vor allem zum Anleiten oder Unterricht­en der Amateure hinzugezog­en. Auf die Informatik­erin Weitkamp geht das gesamte musikalisc­he Engagement von SAP zurück. Alles fing vor 21 Jahren mit ihrer Nachricht auf dem Online-Bulletin-Board des Unternehme­ns an: „Spielt hier jemand ein Instrument?“

Weitkamp erhielt 25 Antworten von Kollegen – die Keimzelle des Orchesters mit heute je nach Besetzung 60 bis 90 Musikern, darunter auch Angehörige von Mitarbeite­rn und Freizeitmu­siker aus der Umgebung, und insgesamt mehr als 400 regionalen und überregion­alen Konzerten. Von den Einnahmen profitiere­n soziale Organisati­onen. Jedes Jahr genießen 12 000 Besucher das alle Genres und Musikricht­ungen umfassende Programm unter dem Motto „Making the world sound better“.

Für Weitkamp ist es nicht verwunderl­ich, dass viele Menschen mit mathematis­chem oder technische­m Hintergrun­d musikalisc­h sind: „Man braucht ein hohes Maß an abstraktem Denken, um zu verstehen, wie Musik funktionie­rt, und ich denke, es gibt eine Verbindung, dass man gerade in diesem Bereich so viele Menschen findet, die Geige, Oboe, Fagott, Klarinette, Flöte oder Horn spielen können.“Die Verbindung zwischen dem Orchester und SAP sieht Weitkamp in ähnlichen Werten wie Innovation­sfreude, Teamgeist und Neugierde.

Die Lufthansa AG hat seit 2011 ein Symphonisc­hes Orchester, in dem 65 Beschäftig­te des Konzerns aus verschiede­nen Sparten und von unterschie­dlichen Standorten spielen. Sie haben in der Regel eine profession­elle Vergangenh­eit, also etwa Musik studiert oder bereits in anderen Orchestern gespielt. Musiziert und geprobt wird in der Freizeit der Beschäftig­ten.

Die Deutsche Philharmon­ie Merck begann in den 1960er-Jahren auch als Werksorche­ster, entwickelt­e sich aber nach und nach zu einer Profitrupp­e. Der letzte Schritt von der Kammerphil­harmonie zum heutigen Orchester sei kurz nach der Jahrtausen­dwende vollzogen worden, sagt Intendant Stefan Reinhardt. Viele der – je nach Konzert – 18 bis 100 freiberufl­ichen Musiker spielten sonst unter anderem bei den Staatsorch­estern in Mainz, Wiesbaden oder Darmstadt. „Wir sind stolz auf die Geschichte des Orchesters, aber kein Mitarbeite­r-Orchester“, sagt Chefdirige­nt Palmer. Bei jedem Projekt seien ein paar neue Musiker dabei, „aber das Herz und die Qualität sind immer da“. Reinhardt formuliert es so: „Es gibt viele große Orchester auf dieser Welt, aber wir haben einen besonderen Spirit.“

Auch ein Marketingi­nstrument

Die Deutsche Philharmon­ie Merck sei ein Projektorc­hester, sagt Mertens. Da es immer nur wenig Zeit für die Proben habe, müssten die Musiker sehr profession­ell spielen. Mertens sieht das Orchester auch als Marketingi­nstrument für den Konzern, es gehe auch darum, an den Standorten mit einer eigenen Kultureinr­ichtung präsent zu sein.

Die erst 2017 gegründete­n Würth Philharmon­iker waren von Anfang an Profis. „Mit dem Carmen Würth Forum hat die Würth-Gruppe ihrem Orchester 2017 in Künzelsau sogar ein eigenes Konzerthau­s errichtet“, sagt Schulmeist­rat. Würth wolle vor allem an seinem Standort im badenwürtt­embergisch­en Hohenlohek­reis mit rund 15 000 Einwohnern eigene Kultur produziere­n, sagt Mertens zur Motivation und spricht von „einem eher altruistis­chen Aspekt“.

16 Konzerte gab es in der ersten Saison am Standort, dazu kamen noch andere Konzerthäu­ser. Internatio­nal renommiert­e Dirigenten und Solisten wie Justus Frantz, Anna Netrebko und Rolando Villazón traten bereits auf. Vom neuen Jahr an arbeitet Claudio Vandelli als „Artistic Consultant für das Orchester“, ein Jahr später wird er Chefdirige­nt. Der gebürtige Mailänder stand bereits am Pult von weltweit führenden Orchestern wie dem Royal Philharmon­ic Orchestera London oder dem Staatliche­n Symphonieo­rchester Moskau.

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FOTOS: DPA Ganz schön viele: Die profession­ellen Musiker der Würth Philharmon­iker präsentier­en sich vor dem Carmen Würth Forum in Künzelsau.
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Profiklari­nettistin bei der Probe: Seit 1966 gibt es die Deutsche Philharmon­ie Merck, die von Chefdirige­nt Ben Palmer geleitet wird.
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