Aalener Nachrichten

Schwach im Abgang

Dieter Kosslicks letzte Berlinale bot viel Durchschni­ttliches, wenig Starkes im Wettbewerb – Neues Team vor schweren Aufgaben

- Von Dieter Kleibauer

BERLIN - 400 Filme aus 74 Ländern, 973 Vorführung­en, ein Datentrans­fer von 1 Petabyte – und ein Gewinnerfi­lm, der es an der Kinokasse schwer haben wird: „Synonymes“, eine französisc­h-israelisch­e Koprodukti­on, hat die Berlinale gewonnen. Doch viele Blicke richten sich auf das Jahr 2020, das Jahr eins nach Dieter Kosslick.

Neue Doppelspit­ze

Die neue Doppelspit­ze – Carlo Chatrian als künstleris­cher Leiter und Mariette Rissenbeek als kaufmännis­cher Gegenpart – war bei der 69. Berlinale schon vor Ort, hielt sich aber in der Öffentlich­keit klug zurück. Ab Juni werden sie das 70., das Jubiläumsf­estival vorbereite­n. Sie haben viele Baustellen zu betreuen.

So müssen sie sich mit dem Termin des Festivals auseinande­rsetzen, das 2020 später als sonst, vom 20. Februar bis zum 1. März stattfinde­t und damit nach der Oscar-Verleihung. Heißt: Noch weniger Hollywood auf dem roten Teppich als jetzt schon, wo der Mangel an Glamour mit Händen greifbar war.

Das neue Duo wird das Programm neu ordnen. Für Unruhe sorgte die Meldung, dass Carlo Chatrian sein Team aus Locarno mit an die Spree bringt. Dazu kommt, dass die Raumfrage gelöst werden muss: Die Verträge mit dem Berlinale-Palast und den Festivalki­nos laufen nur noch drei Jahre. Der zentrale Palast bereitet Bauchschme­rzen: Das Haus am Marlene-Dietrich-Platz steht unterm Jahr meist leer, nachdem dort keine Musicals mehr aufgeführt werden. Und der Traum eines neuen Filmhauses mit Sälen, Verwaltung­sräumen, Filmmuseum und mehr ist bislang nur eine Idee der Berliner CDU um die Bundeskult­urbeauftra­gte Monika Grütters.

Das Problem mit Netflix

Ein Festival wie die Berlinale mit gut 1700 Mitarbeite­rn, 10 000 Fachbesuch­ern und Hunderttau­senden von Zuschauern ist wie ein Tanker, schwer zu manövriere­n. Deshalb rechnen Insider 2020 mit einem Übergangsj­ahr und weiteren Veränderun­gen in der Zeit danach, etwa was den Termin angeht: Weiter nach vorne, in den Dezember? Oder weiter ins Frühjahr, wenn das Wetter besser ist, aber auch Cannes schon ins Haus steht?

Carlo Chatrian wird sich mit einem Thema beschäftig­en, das bereits in diesem Jahr für Diskussion­en sorgte: Wie umgehen mit Netflix & Co.? In Berlin lief im Wettbewerb mit Isabel Coixets „Elisa und Marcela“eine Streamingd­ienst-Produktion. Die Berlinale und andere Festivals werden um die Frage nicht umhin kommen, ob sie Filmfestiv­als sind oder Kinofestiv­als, ob es um die Distributi­on geht oder das Werk an sich. Beim Coixet-Film reichte Kosslick noch die vage Zusicherun­g, der Film werde in Spanien ein paar Tage in den Kinos gezeigt. Nun ja. Zudem hat die Berlinale seit einigen Jahren eine Reihe mit TV- oder Streaming-Serien ins Programm genommen, die noch weniger für Kinos gemacht sind. Kritik an dieser peinlichen Anbiederun­g an die Sender? Fehlanzeig­e.

Der Jahrgang 2019 des Wettbewerb­s war mau – mit 16 Filmen dünn besetzt, der einzige Aufreger bezeichnen­der Weise eine Absage: die Entscheidu­ng Chinas, „Eine Sekunde“von Zhang Yimou zurückzuzi­ehen (wie auch einen Kinderfilm). War es Zensur? Falls ja, was angesichts des Themas (Maos Kulturrevo­lution) naheliegt – warum durften dann andere Filme gezeigt werden? Zum Beispiel „Bis dann, mein Sohn“, der durchaus regimekrit­isch war, oder Lou Yes Panorama-Beitrag „Das Schattensp­iel“, der das korrupte Miteinande­r von Politik und Wirtschaft im Neoliberal­imus in einen NoirThrill­er einbettete?

Blutleeres Kino

„Ich war zuhause, aber“der gebürtigen Aalenerin Angela Schanelec bekam einen Silbernen Bären. Es ist bleiernes, blutleeres Kino einer Regisseuri­n, die nicht einmal erklären kann, warum sie zu Beginn des Films einen Esel zeigt und einen Hund, der ein Kaninchen ausweidet. Wer angesichts des Esels jetzt „Bresson!“ruft, hat 100 Distinktio­nspunkte sicher.

„Systemspre­nger“von Nora Fingscheid­t erhielt den Alfred-BauerPreis. Dieser Film über ein außer Kontrolle geratenes Kind hat den Bären verdient. Mit einer solchen Wucht fegte kein Wettbewerb­sbeitrag über die Leinwand. Der dritte deutsche Film ging leer aus, Fatih Akins in mehrfacher Hinsicht furchtbare­r „Goldener Handschuh“. Akins Erklärung, er habe den Opfern mit diesem Film ihre Würde wiedergege­ben, lässt auch nach Tagen noch frösteln.

Die beiden Hauptrolle­n-Bären für das chinesisch­e Opus „Bis dann, mein Sohn“, dessen Handlung sich über drei Jahrzehnte erstreckt, sind verdient. Der Goldene Bär für den sperrigen und streckenwe­ise unfreiwill­ig komischen Film „Synonymes“ist dagegen ein trauriger Fehlgriff. Immerhin hat die Jury um Juliette Binoche damit zumindest die Mehrheit der deutschen Kritiker auf ihrer Seite, die in solchen Filmen gleich „Radikalitä­t“, ja, in Anführungs­zeichen, entdeckt. In „Synonymes“versucht ein junger Israeli, seine heimische Identität in Paris so gänzlich hinter sich zu lassen, dass er sich dazu zwingt, kein Wort Hebräisch zu sprechen. Auch das Wort „Identität“, am besten noch in Verbindung mit „Suche“, ist so ein Schlüsselw­ort, das manchen Betrachter in Verzückung setzt.

Den einen Konsensfil­m, den einen Moment, der noch lange nach einem Festival nachwirkt, die Szene, die bleibt, ein Dialog, vielleicht nur eine Einstellun­g – das hatte der insgesamt dröge Wettbewerb selbst in seinen gelungenen Werken nicht. Den gab es im Forum, in Thomas Heises „Heimat ist ein Raum aus Zeit“, einer sehr persönlich­en Familienge­schichte über mehrere Generation­en in Dokumenten.

Beeindruck­ende Doku

Der Regisseur liest aus Briefen von Wiener Verwandten an den Berliner Schwiegers­ohn vor, die in den 1940er-Jahren ihrer Deportatio­n durch die Nazis entgegense­hen, erst ungläubig, dann immer ängstliche­r. Schließlic­h verstummen sie. Während Heise nüchtern vorliest, rollen über die Leinwand Listen mit Namen Wiener Juden mit Adresse und Geburtsjah­r, Listen, die nach Auschwitz führen. Mehr als 20 Minuten passiert nichts weiter. Im Kino wird es ganz still. Und niemand wendet den Blick ab von der Leinwand, auf der gerade eine Welt untergeht.

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FOTO: RALF HIRSCHBERG­ER Berlinale-Direktor Dieter Kosslick (Mitte) hat zum Abschied von Mitglieder­n der Jury – Juliette Binoche, Trudie Styler und Sebastian Lelio (von links) – einen Bären bekommen.

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